Der Tunnel

Ein Tunnel macht angst. Dazu muss man nicht klaustrophob veranlagt sein. Für meine Geister in der Unterwelt hatte ich alles Schaurige zusammengestellt, was sich in Tunneln ereignete, einschließlich Geister. Aber heute nur ein Cocktail aus drei unterschiedlichen Geschichten, die etwas von Science Fiction haben und tiefsitzende Ängste bearbeiten.

Ich kann da aus meinem Manuskript zitieren.

service-pnp-habshaer-ca-ca2400-ca2462-photos-316006prDie berühmteste Geschichte über einen Tunnel hat Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) geschrieben. Die erste Fassung von 1952 hat er 1978 noch einmal überarbeitet. Sie heisst ganz einfach »Der Tunnel«, und den Grundeinfall dazu könnte jeder gehabt haben. Man sitzt in einem Zug, der durch einen Tunnel fährt, und plötzlich fällt einen der Gedanke an: Wie, wenn der Tunnel nie enden würde? Ein vierundzwanzigjähriger dicklicher Student, Zigarrenraucher, reist von Basel nach Zürich, der Zug tritt in einen Tunnel ein, und verbleibt in diesem fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn Minuten … »und wie er wieder auf das Zifferblatt schaute, war es viertel nach sechs und immer noch der Tunnel«” Es müsste der längste Tunnel der Schweiz sein. Hat er den falschen Zug genommen? Der Student fragt den Schaffner, der immerzu sagt, der Zug müsse gleich in Olten einlaufen. Der Zug bleibt indessen im Tunnel und wird immer schneller.

Der Student erreicht den Zugführer, der ihn bittet, in den vorderen Wagen mitzukommen. Nach einer waghalsigen Kletterpartie stehen sie in der Lokomotive, die sich zusehends neigt, die Wände fliegen vorbei, der Student liegt auf dem silbernen Fenster des Führerraums, der Zugführer fällt neben ihn und fragt noch einmal: »Was sollen wir tun?« Was könnte der Student antworten, da der ganze Zug offenbar mit mehr als zweihundert Sachen senkrecht hinunterfliegt, anscheinend in den Mittelpunkt der Erde hinein? Er sagt »mit einer gespensterhaften Heiterkeit: Nichts.«

Ein Film blieb mir in Erinnerung …

service-pnp-habshaer-md-md0900-md0909-photos-086099prUm einen Geisterzug geht es in dem argentinischen Spielfilm Möbius von 1996, den ich im Jahr darauf als Publikumswunsch in einem kleinen Frankfurter Lichtspielhaus sah. Schon 1913 wurde in Buenos Aires die Linie A eröffnet (die Römer fingen 1955 mit Linie B an, um danach erst zum Bau der Linie A zu schreiten), die die Docks und Primera Junta verband. 1930 kam Linie B hinzu, und von 1934 bis 1944 wurden noch die Linien C bis E eröffnet. Auf dem 200 Kilometer langen Netz der Untergrundbahn, das täglich fünf Millionen Menschen frequentieren, zeigt sich immer wieder ein Zug mit affenartiger Geschwindigkeit, der nicht lokalisiert werden kann. Die Direktion ist verzweifelt und zieht den Topologen (Oberflächenexperten) David Pratt (Guillermo Angelelli) hinzu. Der entdeckt, dass ein alter Professor — Hugo Mistein — die Pläne der Untergrundbahn entwendet und eine Formel gefunden hat, einen Zug ewig fahren zu lassen: auf Basis des sogenannten Möbius-Bandes, das die vierte Dimension mit einschliesst. Der Weg in die Unendlichkeit! »Das Netz ist zu komplex geworden«, klagt Pratt, »man kann es nicht mehr berechnen.« Er findet den Geisterzug UM 486 dennoch und steigt ein. Er bleibt bei dem Professor, der immerzu den Zug nahezu mit Lichtgeschwindigkeit durch die Tunnels steuert. Warum tut er das? »Weil niemand mehr zuhört!«

Und zuletzt eine Geschichte von Charles Dickens (1812-1870). Von 1840 an wurden Geistergeschichten populär: gothic, davon haben wir gehört. Frankenstein, E.T.A. Hoffmann. Von Dickens wurde die kurze Erzählung No. 1 Branch Line, The Signalman erst 1866 veröffentlicht. »Halloa! Sie da unten!« ruft der Erzähler hinab zu einem Streckenposten mit Flagge, und weiter rechts klafft der schwarze Mund eines Tunnels mit einem roten Licht. Er darf hinuntersteigen, freundet sich mit dem dunklen, bärtigen Mann an, den sein Ruf erschreckt hat. Wieso, erzählt der Posten (der Signalman) ihm in der folgenden Nacht.

service-pnp-habshaer-ca-ca2400-ca2400-photos-315551prVor einem Jahr habe er einen Mann vor dem Tunnel gesehen, der vor dem roten Licht geschrien habe: »Halloa, da unten! Pass auf!« Seine Erkundigungen hatten das Resultat: alles in Ordnung. Sechs Stunden später prallten zwei Züge im Tunnel aufeinander, es gab Tote. Nach sechs Monaten, nachdem sich der Signalman halbwegs erholt hatte, sah er ihn wieder. Diesmal schwieg das Gespenst, die Hände vor dem Gesicht. Am selben Tag kam ein Zug aus dem Tunnel, und in einem Abteil herrschte Aufruhr. Man stoppte den Zug, und ein junges Mädchen wurde herausgetragen, das überraschend gestorben war. Und nun … sah der Posten den Geist wieder, Tag für Tag. Was mochte es bedeuten? Die Frage quälte ihn. Wo und wann würde sich ein schreckliches Unglück ereignen?

Die Antwort lässt nicht auf sich warten. Der Erzähler will seinen Freund besuchen, unten herrscht Konfusion, vor dem Tunnel steht ein echter Mann, und jemand unterrichtet ihn: »Signalman killed this morning, Sir.« In der Tat, der Posten wurde von einer Lok niedergestreckt, die aus dem Tunnel kam, der Lokführer habe noch Halloa, da unten! Pass auf! gerufen, doch der Mann habe ihm den Rücken zugekehrt und nicht reagiert. So war es eine Warnung vor dem eigenen Tod gewesen, die Worte waren vorgeprägt, aber warum tat er nichts, wo schaute er hin?

 

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Illustrationen: Ganz oben Tunnel 26 der Southern Pacific Railroad, ganz unten das Ostportal von Tunnel 18, beides fotografiert von Ed Anderson. In der Mitte der Howard Street Tunnel in Baltimore, Fotograf ungenannt. Dank wieder einmal an Library of Congress, Washington D. C.

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