Flugverkehr (6): freies Schweben

Kürzlich hatte ich Alex Imich in einem Nachsatz zu Umsteigebahnhof zum 110. Geburtstag gratuliert. John Archibald Wheeler, der US-Physiker, der 1967 den Begriff »Schwarzes Loch« prägte, war ihm auf den Fersen. War acht Jahre jünger, starb aber 2008, 97 Jahre alt. Ein unkonventioneller Typ, aber dennoch Gentleman durch und durch, hieß es. Ist fünf Jahre in der Geistigen Welt und schickt mir durch sein Buch A Journey through Gravity and Spacetime (1990) einen tollen Gedanken!

Ich muss Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie verstehen. Das wird in vielen Büchern erklärt. Aber Wheeler hatte einen anderen Zugang, der mir buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzog; und das will etwas heißen, denn ich bin mit vielen schrägen Geschichten vertraut. John A. Wheeler stellt uns in seinem Buch erst die Leistung Newtons vor, und dann kommt er dazu, was Albert Einstein dachte. In seiner Speziellen Relativitätstheorie führt er die Raumzeit und die Lichtgeschwindigkeit ein als höchstes Tempo im Universum. Ab 1908 dachte er über das nach, was später seine Allgemeine Relativitätstheorie werden sollte.  

Wheeler schreibt: »Zwei Gedanken sind für Einsteins Konzept der Schwerkraft zentral. Der erste ist das freie Schweben. Der zweite ist die Krümmung der Raumzeit.« Einstein soll sich erkundigt haben, was 1908 ein Maler, der vom Dach fiel, empfunden habe. Er habe sich gewichtslos gefühlt, erfuhr er. Wheeler: »Wir, die wir auf sicherem Boden stehen, sehen alles falsch, weil uns der Boden unter unseren Füßen die ganze Zeit von unserem natürlichen Bewegungszustand entfernt. Der natürliche Bewegungszustand ist der freie Fall oder besser gesagt: das freie Schweben.« Die Raumzeit wirkt direkt und lokal auf uns ein.  

Die Raumzeit sagt der Masse, wie sie sich bewegen soll; die Masse sagt der Raumzeit, wie sie sich krümmen soll. So einfach ist das bei Wheeler. Die Schwerkraft gibt es nicht, wenn wir schweben. Der Boden unter unseren Füßen ist elastisch, an ihm kleben wir fest. Die uns umgebende Raumzeit beeinflusst unseren Zustand. Weil die Erde ist, wie sie ist, ist unser Körper so geworden: zwei Füße, manchmal platt, die Bodenhaftung haben. Würden wir schweben wie die Vögel, sähen wir wie Vögel aus. Wir wären eher Seelen und weniger Körper.  

Denken wir uns einen Raum, in dem man einen Ball wirft. Er beschreibt eine Parabel und trifft auf den Boden auf. Lassen wir den Raum selber einen Abhang hinab, wird die Parabel zu einer geraden Linie, und der Ball trifft nicht auf. Die Härte des Bodens verletzt uns beim Fall; nicht die Schwerkraft. Ohne das Faktum der Festkörperphysik schweben wir.  

Allein dieser Gedanke, dass das Freischwebende unsere wahre Existenz wäre, wirft einen aus dem Gleichgewicht. Wir kennen uns und andere und sind damit vertraut, dass alle auf zwei Beinen dahingehen. Verändere eine Kraft ein wenig, lass das Referenzsystem, in dem wir sind, beiseite, – und wir schweben! Free float. Ich muss das noch näher verstehen, aber vorerst lasse ich es bei dieser einfachen Formel.  

Es ist wie im Traum. Wir wollten ja fliegen, die Gebrüder Wright schafften es im Oktober vor hundert Jahren zum ersten Mal. Vielleicht ahnen wir, dass das Schweben unser natürlicher Bewegungszustand ist? 

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Dann las ich (erst gestern) in einem Buch von W. G. Sebald herum, Campo Santo (aus dem Nachlass). Da behandelt er Vladimir Nabokov (ja, Lolita, Pnin, neben anderen, und hier kommt er vor) findet sich eine Stelle, in der Nabokov schildert, dass die Bauern auf dem Dorf, wo er aufwuchs, seinen Vater, den Gnädigen Herrn, hochleben ließen. Sie warfen ihn drei Mal in die Luft.

»Von meinem Platz am Tisch aus konnte ich plötzlich in einem der Westfenster einen wunderbaren Fall von Levitation erleben. Für einen Augenblick war dort die Gestalt meines Vaters in seinem windgekräuselten weißen Sommeranzug zu sehen, prächtig mitten in der Luft ausgebreitet, die Glieder in einer seltsam lässigen Haltung, seine wohlgestalten, unerschütterlichen Gesichtszüge dem Himmel zugewandt. Dreimal flog er solchermaßen zum mächtigen Hauruck seiner unsichtbaren Werfer in die Höhe, beim zweiten Mal ging es höher als beim ersten, und dann, bei seinem letzten, luftigsten Flug, lehnte er sich wie für alle Zeiten gegen das Kobaltblau des Sommermittags, einem jender paradiesischen Wesen gleich, die mit dem ganzen Faltenreichtum ihrer Gewänder mühelos am Deckengewölbe einer Kirche schweben …«

Und auf der übernächsten Seite noch was Schönes, Kafka im Kino heißt der Beitrag, und Sebald weist auf den Film Im Lauf der Zeit von Wim Wenders hin, in dem einer mit dem VW-Käfer in einen Fluss rast. »Einen ewigen Augenblick lang segelt der Käfer durch die Luft, als hätte er das Fliegen gelernt. In meiner Erinnerung sehe ich ihn segeln noch heute.«     

          

 

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