Unterwegs zur Unsterblichkeit
Den Titel musste ich so wählen, denn Vom Königssohn, der unsterblich sein wollte war mir einfach zu lang. Das ist ein ungarisches Märchen, das mir spontan gefiel, und also gibt’s nun auf manipogo eine Kurzfassung, in der wieder einmal der leibhaftige Tod seinen Auftritt hat. Und wieder hat er das Nachsehen!
Viele Märchen kommen bei manipogo ja nicht vor, aber loben muss man sie. Sie kommen aus dem Volk, zeigen also Ängste und Sehnsüchte, und sie wagen sich weit hinaus. Im Märchen ist vieles möglich, auch das Unwahrscheinliche, verquickt oft mit Magie und Religion.
Dann nach der dem Märchen nahen Romantik kam das wissenschaftliche Zeitalter mit seiner Unzahl von Romanen, die versuchen, das Leben einzufangen und dabei immer zu kurz springen. Wenn’s fantastisch wird, ist das der »magische Realismus«, meist von Südamerikanern, die dürfen das. Doch was ist das Leben ohne Utopie? Es weiß nicht, was es können kann, und wenn das Leben die Kunst imitiert, wird es doppelt öde.
Auch Kino ist zu brav, zu sehr von dem gefesselt, was es gibt und nicht von dem, was es geben könnte. Märchen sind anders. Schon der Anfang unseres ungarischen Märchens ist gewitzt und unkonventionell, Makro- und Mikrokosmos sind einem genialen (Anfangs-)Satz durcheinandergequirlt, und er passt eigentlich auch zur manipogo-Serie über die Sieben.
Vom Königssohn, der unsterblich sein wollte
Es war einmal irgendwo, siebenmal sieben Länder weit und noch weiter, jenseits des großen Meeres, hinter einem alten Herd in der Mauerspalte, in der siebenundsiebzigsten Falte vom Rock der Muhme — ein weißer Floh und in dessen Mitte eine prächtige Königsstadt.
Der König hatte einen Sohn, der gut ausgebildet wurde und viele Reisen unternahm, von denen er jedoch traurig zurückkam. Er sagte dem Vater:
Mich bedrückt der Gedanke, dass jeder Mensch, auch der König, einmal sterben muss. Ich möchte ein Reich entdecken, in dem der Tod keine Macht hat.
Also macht er sich auf die Reise. Zuerst trifft er den Adlerkönig, der ihm sein Töchterlein verspricht. Er hat die Aufgabe, einen Baum bis auf den Grund abzuwetzen; erst dann könnten sie sterben. Das könne 600 Jahre dauern. Der Königssohn bedauert: Dann komme dennoch der Tod. — Der kahlköpfige König muss einen Berg abtragen, erst dann können die Seinen sterben, und das werde 800 Jahre dauern. Dem Königssohn reicht auch das nicht. —Im nächsten Schloss muss eine Königstochter Nadeln abwetzen, einen Raum voll mit Nadeln, 1000 Jahre werde das dauern. Nicht lang genug für den Königssohn. (Die so Verfluchten machen aber unverdrossen mit ihrer Arbeit weiter; es kann freilich ein Fluch sein, nicht sterben zu können, aber jeden Tag arbeiten … für den Tod?? Welcher Lohn wäre das?)
Überall wird ihm ein magisches Instrument gegeben, und so erreicht er das vierte Schloss. Er erklärt der Königin sein Begehr. Sie sagt, sie sehe, dass er kein gewöhnlicher Mensch sei.
»Nun, da bist du am rechten Ort«, sagte die Königin, »denn ich bin die Königin des Lebens und der Unsterblichkeit. Hier bist du vor dem Tode in Sicherheit.« Sogleich ließ sie ihn niedersitzen, versorgte ihn aufs freundlichste und lud ihn bald zu Tisch.
Volle tausend Jahre blieb der Königssohn in diesem großartigen Schloss. Diese lange Zeit verging aber so rasch wie ein halbes Jahr.
Schließlich bekommt der junge Mann Heimweh — wie der Ire Bran und seine Genossen (Link unten). Er wolle Vater und Mutter sehen. Die seien doch längst gestorben, erwidert die Königin, doch er lässt sich nicht abbringen davon. Er reist rasch zurück zur Königstochter mit den Nadeln und weckt sie mit einer Tinktur ebenso auf wie den kahlköpfigen König, den Adlerkönig und deren Töchter.
Von seinen Eltern aber keine Spur — und dann hat er plötzlich den Tod auf den Fersen. (Links der Tod in dem Bergman-Film Das siebente Siegel. ) Gerade noch gelingt es ihm, das Reich der Unsterblichkeit zu betreten; aber nur mit einem Fuß. Den andern packt der Tod und triumphiert: Er gehöre ihm!
Nun das alte Spiel: Kann man dem Tod diese Seele abgewinnen? Die Königin schlägt ihm eine Wette vor: Sie werde den jungen Mann hochschleudern zum siebten Himmel, und wohin er danach falle, das sei entscheidend. Zisch, er ist weit weg und fällt dann wieder, erst klein wie eine Wespe, dann wird er größer und fällt exakt auf die Burgmauer. Ein Windstoß will ihn gerade dem Tod in die Arme werfen, da packt ihn die Königin und trägt ihn auf den Armen weg und küsst ihn, weil ihm schwindlig ist.
Da denke ich an diese wunderschöne Szene in »Teresa la ladra«, wo die verliebte Monica Vitti ihren Liebhaber badet (der blutjunge Michele Placido), ihn liebkost und dann eigenhändig auf starken Armen hinüberträgt und ins Bett wirft. Er ist pikiert, es ist ihm peinlich, obwohl niemand zuschaut (nur die Kamera, und damit doch viele).
Letzter Satz des Märchens, kongenial zum ersten passend:
Der Königssohn und die Königin leben noch heute im Glück und Ruhm, und wer es nicht glauben will, sucht am Ende der Welt die in der Luft schwebende Burg der Unsterblichkeit, und wenn er sie gefunden hat, kann er sich auf der Stelle davon überzeugen, dass dieses Märchen die Wahrheit spricht.
Würde man sie finden, dann … Dieses Märchen ist nicht zu falsifizieren. Eine Utopie. Warum nicht? Wäre eine solche Utopie nicht in den Köpfen, würde niemand mehr heiraten. — Warum nicht statt der vielen Krimis mal eine Utopie, ein Märchen, etwas Schönes? Das so zu gestalten, dass es nicht kitschig wird, ist schwierig; das Böse und Grausame, das kriegen alle hin.
Weitere Artikel:
Wie war es? (2) Die Reise des Bran — Sophie, der Tod und ich — Das siebente Siegel.
Die beiden Berg-Bilder stammen von Nicolas Roerich. Das obere Bild heißt »Pfad nach Tibet« (1925), das darunter »Morgenstern« (1932).
Das Märchen ist aus dem Buch »Märchen aus Polen, Ungarn und der Slowakei« vom Verlag Olde Hansen, Hamburg (o. J., das heißt: keine Jahreszahl angegeben).