Die „Songlines“ Australiens
Früher haben wir uns für die »Aborigines« interessiert, die australischen Ureinwohner, und ihre Traumzeit. »Wir«, das waren die, die alles an den Rändern des traditionellen Wissens in sich aufsaugten. Also damals »Traumpfade« gelesen, den Reisebericht von Bruce Chatwin von 1987. Ziemlich bunt, das Buch; aber es steht viel drin über die »Songlines« (so heißt es auch englisch: »The Songlines«).
Ich habe vor kurzem das Buch nochmals gelesen und mir Notizen über diese Songlines gemacht. Es klingt ja alles gut und toll, aber man will es sich vorstellen können, und das geht ja auch, wenn man nicht dort war. — Alle paar Wochen treffe ich beim Radfahren Armando Basile (zuletzt vor 5 Tagen, ihn und Helga), der den fünften Kontinent fünf Mal von Nord nach Süd auf dem Rad durchquert hat und zwei Mal von Ost nach West; er kennt den Uluru, den berühmten Berg, aber ihm ging’s um die Fahrrad-Kilometer, frag ihn besser nicht nach den Songlines.
Also versuche ich es ganz einfach zu erklären. Es gibt viele verschiedene Stämme mit unterschiedlichen Sprachen. Jeder Stamm hat sein Territorium und hat es zunächst definiert, hat also die Felsen und Hügel, die Wasserstellen und Steppen benannt. An der Grenze zum nächsten Stamm endet seine Weisheit. Jeder Stamm hat zudem sein Totemtier und jeder Angehörige hat seine Tschuringa: einen schönen Stein, der seine Seele repräsentiert, sein alter ego. Die Ahnen hatten schon Lieder, die sie weitergaben. Diese Lieder sind auf die übliche Gehgeschwindigkeit abgestimmt und sind auf Wegen zu singen, die Linien sind. Wer gehend diese vielstrophigen Lieder singt, weiß immer, wo er sich befindet. Ein Felsen bedeutet ein Tier, zu einem Wasserloch gibt es eine Geschichte. Das Land ist von den Liedern nicht zu trennen. Wer sie rückwärts singt, kommt wieder zu Hause an. Sie haben diese Lieder in sich. Es ist eine Topographie in Musik.
Wenn ich mir überlege, wie meine Gegend auf mich wirkt, komme ich in Verlegenheit. Da gibt es links den Fohrenberg, vor mir den Castellberg, auf dem einst römische Soldaten Wacht hielten; im nächsten Ort (Betberg) kannte ich einmal eine Frau, die im Pflegeheim starb, im nächsten Ort dann liegen nochmal zwei Frauen, die ich mochte, auf dem Friedhof, in Müllheim habe ich zwei, drei Freunde; eigentlich wird das Land belebt durch die Menschen, die man dort kennt (oder kannte), da gibt es keine tiefergehende spirituelle Bedeutung. Es wird auch hier Hunderte Geschichten geben, Johann Peter Hebel hat einige aufgezeichnet, doch eigentlich leben wir ohne Traumzeit und irgendwie besinnungslos.
Die Traumzeit, das ist die zeitlose Zeit des Mythos, der sich immer wieder ereignet. Märchen beginnen mit »Es war einmal«, und in den Evangelien des Neuen Testaments fangen die Erzählungen immer an mit »In illo tempore«: Es begab sich zu der Zeit; oder: In jener Zeit …
Ein paar Zitate aus dem Chatwin-Buch:
Jeder Pfad ist ein Lied. Das Land und das Lied sind eins.
Die Aborigines glaubten, dass ein ungesungenes Land ein totes Land ist; denn wenn die Lieder vergessen sind, wird das Land selber sterben.
Alle unsere Wörter für Land sind identisch mit den Wörtern für Linie. … ein verschachteltes Netz von Linien oder Durch-Gängen.
Die Handelsstraße ist die Songline. Denn Lieder und nicht Dinge sind Hauptgegenstand des Tauschens. Der Handel mit Dingen ist eine Begleiterscheinung des Handels mit Liedern.
Die Strophen eines Menschen waren seine Besitzurkunde für das Stück Land, das er von seinen Ahnen geerbt hatte.
Zur dritten Aussage dachte ich mir etwas (auch ohne Chatwin). Wenn wir im Pflegeheim am Mittwochnachmittag die alten Volkslieder singen, hat man manchmal das Gefühl, sie seien echter Ausdruck des Landes, das Land singe selber. Diese Lieder wie Kein schöner Land sind im Leben auf und mit dem Land entstanden, sie atmen ihren Geist. Wenn wir sie nicht mehr singen, wird etwas gestorben sein. — Man kann sich denken, dass in 20 Jahren auch die Alten Volkslieder nicht mehr kennen. Heute spricht man viel von Nachhaltigkeit oder »die Umwelt lieben«, doch es steckt keine Überzeugung dahinter, es ist ein Lippenbekenntnis. Der Kontakt ist verlorengegangen, vor langer Zeit schon.
Wenn die Eingeborenen Karten malten, erstreckten sich Linien darüber, und Kreise wiesen auf Wasser, auf Hügel oder Felsen, und meist dauerte es zu Fuß genau einen Tag von Kreis zu Kreis. Das sieht dann vielleicht ähnlich aus wie die Karten unseres Radfahrers Basile, nur wird gewandert und gesungen.
Die Parallele zu den Drachenlinien im Feng Shui und zu den Ley Lines der Geomanten ist deutlich. Alles ist ein Bewusstseinskontinuum; dass auch Pflanzen leben und empfinden, dringt derzeit allmählich in den Wissenschaftsbetrieb ein.
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