Gespräche in Sizilien

Elio Vittorini ist gestern zitiert worden, und von ihm las ich (schon im Mai, auf Mallorca) das 1939 erschienene Buch Gespräche in Sizilien, das nur 120 Seiten lang ist, aber Einfluss auf die Widerstandsbewegung gegen den Faschismus hatte, obwohl es rätselhaft und widersprüchlich wirkt. Aber ein tolles Buch ist es schon!

Vittorini wurde nicht alt, er kam 1908 in Sizilien zur Welt und starb am 13. Februar 1966, als ich gerade 9 Jahre alt geworden war. Spät entdeckte ich seine Gespräche, die eine Reise von Mailand nach Siracusa behandeln, und eine Reise sei auch ein Gespräch, meinte er. Die Reise unternimmt Silvestro, damals so alt wie Elio Vittorini, 30 Jahre. Er beschließt spontan, nach 15 Jahren wieder seine Mutter in einem Dorf in den Bergen zu besuchen, da sie Geburtstag hat. Den Vater hat sie weggeschickt, weil er in eine andere Frau verliebt war. Es ist Anfang Dezember, also nicht gerade die schönste Jahreszeit.

Im Zug hat Silvestro ein paar Sizilianer getroffen, die einen Job bei den Faschisten haben, die seit 1922 Italien regierten. Da jedes Buch durch die Zensur musste, war man mit Kritik vorsichtig — oder verschlüsselte sie, wie das viele Autoren in vielen Diktaturen taten. Vittorini verstört seine Leserinnen und Leser geradezu. Er dekonstruiert die Sprache, die bei ihm nicht mehr eindeutig ist. (Der Faschismus hatte die Sprache vereinnahmt  und vergewaltigt, sie war eigentlich beschädigt.) Silvestros Mutter widerspricht sich die ganze Zeit; wenn er etwas sagt, deutet sie es, doch er erwidert: »Das meinte ich nicht.« Das sagt er dann nochmal und nochmal; er meinte etwas Anderes, aber wir wissen nicht, was genau er meinte. Es wirkt irreal und wie in einem Stück von Samuel Beckett, geschrieben 20 Jahre vor Beckett.

Seine Idealgestalt ist der »Große Lombarde«, ein beeindruckender Mensch, der aber weder groß sein muss noch Lombarde; er könnte auch in China geboren sein und wäre ein Großer Lombarde. Wir erfahren nicht, wie ein Großer Lombarde ist. Silvestro trifft den Scherenschleifer und den Weinhändler, sie trinken und reden, und immergleiche Sätze fallen. (Die Sätze bedeuten nicht mehr viel, sie sind Phrasen.) Am Ende ist der Vater wieder da, aber gealtert und kaum wiedererkennbar; ist er es wirklich? Nach diesen vielen Verwirrungen und verbalen Umkreisungen von etwas, das im Dunkeln bleibt, reist Silvestro wieder heim nach Mailand, wo er verheiratet ist.

Elio Vittorini schreibt im Vorwort, das Buch habe Einfluss gehabt und den Geist des Aufstands in die Herzen vieler verpflanzt; kann man sich das vorstellen, da nirgends in dem Buch von Rebellion und Aufstand gesprochen wird? Hat das kleine Buch einen geheimen Subtext, der nur in der damaligen Situation wirkte? Oder ist das nur eine Behauptung des Autors? Aber ein Buch, das voller Rätsel steckt, ist gewiss wertvoller als andere leere und geschmeidig daherkommende Romane. Nach dem letzten großen Krieg schrieben deutsche und französische Autorinnen und Autoren ähnlich: kryptisch, karg, hermetisch. Wie Beckett schrieben sie, aber 10 Jahre vor Beckett. So war die Zeit nach dem Morden und den Zerstörungen; und derart verwüstet und entstellt sind die Interaktionen in den Gesprächen in Sizilien.

Ähnliche Artikel:

Absurdes TheaterIn der Hölle, auf ewig (?)Largo desolato.

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.