Ich bin noch hier

Salvatore Quasimodo (1901-1968) und Eugenio Montale (1896-1981) sind die beiden italienischen Dichter, die bei manipogo bislang am häufigsten vorkamen; Mario Luzi und Ungaretti sind zwei andere, die mir etwas bedeuten. Von meinen drei Lieblingsgedichten Quasimodos fehlt nur noch eins; und das kommt heute.

Es ist aus seinem späten Gedichtband Dare e avere (Geben und haben, 1966). Auf der letzten Seite meines Buchs mit allen Gedichten des sizilianischen Lyrikers, der 1959 den Literatur-Nobelpreis erhielt, wird Montales Werk (Nobelpreis 1975) mit dem Quasimodos verglichen, und das ist schon gelungen und originell; dazu muss man beide Dichter gut kennen. Elio Vittorini (1908-1966) zitiert da Giansiro Ferrata, der meinte, während

sich bei Montale alles um ein unaufhaltsames Sich-Hinstrecken auf eine bedeutende Erschütterung dreht, die nicht eintritt, scheint sie hier (bei Quasimodo) eingetreten zu sein, Erinnerung geworden, und sie hinterließ in der Seele ihre Spuren, und undeutlich erkennt man die Gegenwart Gottes.

Vittorini weiter:

Und ich möchte ergänzen: des Todes. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dieser Zusammenbruch (crollo) stattgefunden hat, und er wird mit dem »Übel« identifiziert, auf das der Dichter öfter anspielt, als wäre es eine Verwüstung des Körpers. Und nicht nur das; man spürt in Quasimodos Dichtung eine Stimmung wie »nach der Sintflut« und besser noch am Tag nach der Sintflut, an dem die Welt um ihn herum völlig unbewohnt wirkt: eine Erde, die aus dem Wasser emporgestiegen ist und auf der als einzige Stimmen das Kreischen eines Albatros‘ und die Schreie der Meeresvögel hörbar werden.

Local Flood: von Banjir Besar Jaman Nabi

Local Flood: von Banjir Besar Jaman Nabi

Aus dem Band Dare e avere nun ein kurzes Gedicht mit dem Titel Non ho perduto nulla, und erst im schönen Italienisch:

Sono ancora qui, il sole gira
alle spalle come un falco e la terra
ripete la mia voce nella tua.
E ricomincia il tempo visibile
nell’occhio che riscopre la luce.
Non ho perduto nulla.
Perdere è andare di là
da un diagramma del cielo
lungo movimenti di sogni, un fiume
pieno di foglie.

IMG_2894Ich habe nichts verloren

Ich bin noch hier, die Sonne wandert
in meinem Rücken wie ein Falke, und die Erde
wiederholt meine Stimme in der deinen.
Und es beginnt die sichtbare Zeit
in dem Auge, das von neuem das Licht entdeckt.
Ich habe nichts verloren.
Verlieren, das heißt dorthin gehen
zu einem Diagramm des Himmels
entlang der Bewegungen der Träume, ein Fluss
voll mit Blättern.

 

Man könnte sich auch denken, dass da jemand den Übergang vollzogen hat, also gestorben ist. Er ist trotzdem »noch hier«, hat nichts verloren. Er entdeckt das neue Licht. Doch wer würde dort etwas verlieren? Nun, es gibt auch Jenseitsregionen, in denen Finsternis und Kälte herrschen. Wenn jemand partout nicht glaubt, dass es weitergeht, wenn jemand ein liebloses Leben mit dunklen Gedanken geführt hat, dann werden die Gedanken ihn dort drüben überwältigen, und er wird (geraume Zeit) stumm und starr dasitzen — vor einem Fluss voll mit Blättern, einem Bild für Reglosigkeit. Literaturkritiker interpretieren das sicher anders, aber das dürfen sie. Wir entscheiden, ob eine Interpretation etwas taugt.

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