Im Hotelzimmer, allein
Es kommt einem nicht richtig vor, die Packtaschen, Zelt und Schlafsack im Hotelzimmer liegen zu haben. Das ganze Gerümpel! Was soll das? Dann schaut man herum, duscht und nimmt ein paar Sachen mit in die Stadt. — Irgendwie fühlte ich mich unwohl in St. Amour.
Es lag vielleicht auch an der Anreise, dem Verkehr auf der großen Straße. — Der Platz vor dem Hotel war leer und trostlos. Da ist man allein mit seinen Gedankenm, muss am nächsten Tag wieder weiter und fühlt sich irgendwie am falschen Ort. Auf der Fahrt am nächsten Morgen dann dachte ich, dass noch 15 Kilometer bis Bourg en Bresse fehlten und 60 bis Lyon, der großen Stadt, da musst du durch, und ich suchte einen Ausweg und dachte: Fährst du nach St. Claude.
Außerdem wollte ich die Reise abkürzen. Am dritten Tag hat man immer die Krise. Du schaust also das Doppelbett an und die plüschige Einrichtung. Auf dem Boden liegt der ganze Krempel. (Bourdain hatte damals im Elsass auch eine Krise und brach zusammen.)
Kurt Tucholsky (1890-1935) hat 1927 einen Text für eine Zeitung geschrieben, an den ich oft dachte. Er heißt Allein. Ich kürze ihn ein wenig,
Wenn das Stubenmädchen Wasser und Handtücher gebracht hat, sagt es: »Brauchen Sie noch etwas?« Das ist eine rhetorische Frage, und dann zieht es die Tür hinter sich zu. Nun bin ich allein.
In einem fremden Hotelzimmer öffnet man das Fenster und macht es wieder zu und geht hin und her. Die Bilder an den Wänden sind töricht, natürlich. Wenn man sich gewaschen hat, kann man pfeifen. Dann lege ich den Kopf an die Scheiben und mache ein dummes Gesicht. Die Nägel könnte ich mir auch mal schneiden.
Was tue ich eigentlich hier –?
(…) Die Pyrenäen gehn mich überhaupt nichts an. Da treibe ich mich nun schon seit zwei Monaten umher, laufe und fahre von einem Ort in den andern, wozu, was soll das. Für morgen steht im Notizbuch eine besonders schwierige und mühselige Sache, und zwei ältere Bücher darüber muß ich auch noch lesen, vielleicht hat sie die Bibliothèque Nationale . . . das ist ja alles lächerlich. Wie kalt die Fensterscheibe ist –
Jetzt schnurren die Gedanken in affenhafter Geschwindigkeit, die kleinlichsten Geschichten kommen wieder angetrabt, kein blutiger Schatten – viel schlimmer: Dummheiten. Herein! Es hat wohl nur einer an die Wand geklopft. Was sind das für –
Alles kommt wieder. Es plagen und zwicken mich die verpassten Gelegenheiten, die Antworten, die ich nicht gegeben habe, die kleinen Demütigungen, eingesteckt und bitter heruntergeschluckt, aber ein Nachgeschmack bleibt. Da stehe ich nun im Hotelzimmer und sage mir alles vor, was ich einstmals hätte sagen sollen, aber versäumt habe, zu sagen – aus Torheit, aus Mangel an Geistesgegenwart, aus Furcht . . . Jetzt hole ich es alles nach. (…)
Wie dunkel es ist und wie kalt. Sie könnten hier wirklich heizen, das schadete gar nichts. Aber dieser Repräsentationskamin da . . . pah! Ich mag morgen gar nicht aufstehen. Soll ich krank werden? Ich werde einfach sagen: ich bin krank. Dem Führer mit seinen Pferden wird das übrigens gleich sein, denn er ist bestellt, und ich muss ihn bezahlen. Und hier im Hotel macht das Kranksein auch keinen rechten Spaß. Aber ich gehe ganz früh zu Bett, das sage ich dir. Wem . . . ? Das sage ich dir.
Wenn sie guten Rotwein haben, werde ich mir fürchterlich einen ansaufen. Vielleicht gibt es Vieux Marc, aber nicht in diesen kleinen Gläsern.
Jetzt ist es blaudunkel.
Wenn jetzt einer hereinkäme und mich fragte: »Sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich hier –?« ich müßte antworten:
»Ich vertreibe mir so mein Leben.«
Ähnliche Artikel:
Flugverkehr (166): (Ich fliege nach) Washington — Anthony Bourdain.