Alle Namen
Bei der Durchsicht eines Manuskripts, das nie veröffentlicht wurde, fand ich eine Kurzfassung des Buchs Alle Namen von José Saramago. Dieases Buch ist mir sehr wichtig, und ich habe auf manipogo nie darüber geschrieben?? Müssen wir unbedingt nachholen. Es geht ja nicht um mich oder darum, dass das Buch mir wichtig ist; ich sage in meiner Arroganz einfach, dass es ein total wichtiges Buch über Leben und Tod ist.
Alle Namen (Todos os nomes) erschien 1996, ein Jahr bevor Saramago den Literatur-Nobelpreis erhielt.
Herr José (oder Senhor José, der Vorname Saramagos) arbeitet im Einwohneramt der Stadt Lissabon. Da sind in langen Reihen die Namen der Lebenden und weiter hinten die der Toten registriert. José ist ein einsamer, mysteriöser Mann von fünfzig Jahren, und das düstere Personenstands-Register erinnert an Kafkas Behörden. Den Weg zu den Karteikarten der Toten schildert Saramago wie eine gefahrvolle Reise in die Unterwelt, die man unternehme »mit der Taschenlampe in der zitternden Hand«.
Eines Tages kommt ihm die Karteikarte einer Frau unter, die verheiratet war und dann geschieden wurde und deren Alter 36 Jahren sein muss. Aus Gründen, die ihm selbst verborgen bleiben, beginnt Sr. José, in das Leben der unbekannten Frau einzudringen. Der untadelige Beamte nimmt sich zum ersten Mal seit 25 Jahren frei. Er sucht ihre alte Schule auf, sucht weiter und kommt irgendwann zu dem Schluss, sie müsse tot sein. Wieder dringt er in die kafkaeske Unterwelt der Karteikarten der Toten ein, angetan mit einem hundert Meter langen dünnen Seil (wie der Ariadne-Faden im Labyrinth). Nach den Angaben ist die Frau gestorben: zwei Tage nach seinem Besuch in der Schule. Als er in der Schule war, lebte sie also noch!
Ist sie wirklich tot? Es gibt keinen Totenschein, alles ist in der Schwebe. Durch die Recherche vom Tod ins Leben hinein befreit sich der lebende Tote, der im Amt vergrabene José und tritt ins Leben ein. Das Leben der Unbekannten war »wie eine Wolke, die vorüberzieht, ohne eine Spur zu hinterlassen, weil der Regen nicht ausreicht, die Erde zu befeuchten. Wie ich, dachte Sr. José«.
Der Friedhof hat keine Mauern; die Welt der Toten sickert in die der Lebenden ein, und Josés Untersuchung bringt seinen Chef auf die Idee, die Trennung zwischen Lebenden und Toten im Archiv für absurd zu erklären. Wäre die Frau tot, so gäbe es dennoch eine Möglichkeit, deutet der Chef an, der eine Art Unterwelt-Chef wie Pluto darstellt oder einen Gott … José holt sich den Ariadnefaden, er »befestigte ein Ende der Schnur am Knöchel und machte sich auf in die Dunkelheit«.
Damit endet das Buch. José hat sich in eine Frau verliebt und will sie zurückholen, und warum sollte es nicht gelingen? Er könnte ihre Karteikarte unter die Lebenden einsortieren, und man würde plötzlich merken, dass ein Irrtum geschehen ist, dass sie noch lebt, die Frau, verborgen irgendwo. Der Gedanke, die Trennung zwischen den Lebenden und den Toten aufzuheben, ist auch genial. Wir sind ja alle vorübergehend hier, wenn wir das etwas böse formulieren wollen, und die Toten leben mit uns, unsere Vorfahren und Freunde sind uns im Leben behilflich.
Ich hätte Lust, den Roman noch einmal zu lesen. Vor 20 Jahren schenkte ich ihn einer Frau, an der ich halbwegs interessiert war, und sie gab mir ein anderes Buch stattdessen. Ich würde es gern auf Portugiesisch lesen. Es ist ein kleines, wahrhaft geniales Buch.
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