Der technische Fortschritt hemmt
Was hemmt der Fortschritt? Die Vitalität des Menschen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben schreibt in seinem Blog Quodlibet gern über den drohenden Untergang der westlichen Zivilisation. Sein Beitrag Das Schneckenhaus erschien schon am 23. Mai, doch er ist zeitlos.
Das Schneckenhaus bezieht sich auf das Theorem der Schnecke von Ivan Illich (1926-2002), einem gelehrten Soziologen. Die Schnecke baut wohl ihr Haus selber, es besitzt einige Windungen, und dorthinein kriecht sie. Würde die Schnecke, meinte Illich, weiterbauen und ihr Haus weiterwachsen lassen, würde sie letzlich von ihm erdrückt werden. Agamben spielt damit auf die Entwicklung der Technik an und die »Hypertrophie« (übersteigerte Entwicklung) der juristischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verfügungen und Vorgaben.
Giorgio Agamben zitiert dazu den holländischen Anatomen Lodewjik Bolk (1866-1930):
Im Lauf der Zeit produziert die wachsende Entwicklung der Technologie sowie der sozialen Strukturen eine wahre Hemmung der Vitalität, die einem möglichen Verschwinden der Spezies vorangeht. … Das Voranschreiten dieser Hemmung des vitalen Prozesses kann eine gewisse Grenze nicht überschreiten, ohne dass die Widerstandskraft gegenüber den schädlichen äußeren Einflüssen, dass die Existenz des Menschen nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Je weiter die Menschheit mit der Humanisierung fortschreitet, desto rascher nähert sie sich dem Punkt, an dem Fortschritt Zerstörung bedeutet. Und es liegt gewiss nicht in der Natur des Menschen, sich davon aufhalten zu lassen.
(Bolk schrieb übrigens auch, die weiße Haut rühre von Vorfahren mit schwarzer Haut her, und ganz allmählich hätten sich in Jahrtausenden Haar und Hautfarbe verändert.)
Die Technik ist nicht allein gefährlich; man beobachtet eine Unterwerfung unter alle möglichen rechtlichen Bindungen und Genehmigungen, und über allem schwebt das Gesetz des Marktes. Im Alltag willst du zu einem Abend gehen, bekommst bei der Anmeldung 5 Mails und sollst online zahlen; und so bist du festgelegt. Früher ging man halt hin, wenn man Lust hatte, und zahlte. Du meldest ein Kind beim Kindergarten an und musst 8 Formulare ausfüllen und unterschreiben. Du nimmst dir einen Leihwagen, kriegst einen Vertrag und vorher 3 Mails und danach nochmal 3.
Alles wird immer noch komplizierter und noch mehr verrechtlicht. Im Blog darfst du keine Bilder aus dem Internet verwenden, alle sind geschützt. (Warum sollen Blogs, die kein Geld verdienen wollen, nicht alles verwenden dürfen?) Immer weniger Handlungen sind möglich, weil sie zu dokumentieren immer mehr Zeit kostet. Am Ende tust du gar nichts mehr. Ade Vitalität. Ade Leben.
Günter Anders (1902-1992), ein deutscher Philosoph, sprach einmal von einem »prometheischen Gefälle« zwischen Mensch und seinen technischen Superprodukten, deren Überlegenheit »Scham« in einem auslösen könnte. (Prometheus brachte den Menschen das Feuer und wurde dafür lebenslang bestraft. Und was Anders sagt, erinnert mich an mein Unbehagen, wenn ich einen alten Mann in ein weißes blitzendes riesiges Auto steigen sehe. Das passt nicht, denke ich mir.)
Die Vitalität wird gebremst, wir stecken in festen, scheinbar unveränderlichen Strukturen, wobei unser Leben immer länger dauert. Lässt sich der Mensch von seiner Technik und ihren Produkten erdrücken? Diese Frage müssten wir uns immer wieder stellen, meint der Philosoph.
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