Den Tourismus überwinden

An einer Gegenwelt zum Konsumkapitalismus arbeitete Hakim Bey sein ganzes Leben, und er wurde gehört. Ende Februar 2022 widmete ich ihm einen ziemlich langen Artikel, in dem seine Temporäre Autonome Zone (TAZ) vorkam, das Chaos und seine Lebensfreude auch. Drei Monate danach ist Hakim Bey, der eigentlich Peter Lamborn Wilson hieß, gestorben, 76 Jahre alt. Heute (als später Nachruf) seine Thesen zum Tourismus.

In dem damaligen Artikel steht ja das Wichtigste drin (Link unten). Über Sufi Travel und Overcoming Tourism hat er weniger sprunghaft geschrieben, das klingt flüssig. Ich las ihn viel damals in Rom, das Internet war neu, und ich war mit linksdenkenden Radfahrern unterwegs. Das passte.

Die Sufis waren sein Idealbild. Seit 1980 schrieb Lamborn Wilson unter dem Pseudonym Hakim Bey. Ab 1968 lebte er im Libanon, in Pakistan und in Iran, wo er zusammen mit dem berühmten Islamwissenschaftler Henry Corbin Texte übersetzte (hierzu: Das siebte Klima). Später lebte er in New York mit William Burroughs zusammen, auch er eine Legende. Übrigens war Lamborn Wilson in Baltimore geboren, also kein New Yorker, wie ich 2022 schrieb!

Die Sufis sind Vertreter des islamischen Mystizismus. Sie wollen sich in Liebe mit Gott vereinigen, nichts Anderes interessiert sie. Wie die mittelalterlichen Mönche wanderten sie ohne Ziel und waren dauernd unterwegs. Der Sufi ließ sich einladen, und dann wurde er versorgt, das war eine eherne Regel. Doch er gab seinem Gastgeber auch etwas zurück: baraka (Segen). Der Wanderer öffnete sein »Auge des Herzens« und wollte durch alles, was ihm begegnete, das göttliche Licht durchscheinen sehen. Er wartete ab, was er erleben würde. Er war also in der materiellen Welt und gleichzeitig in der imaginalen Welt, wie Corbin es nannte, unterwegs. Er hatte ein magisches Weltbild, und jeder, den er traf, konnte ihm zum Engel werden. Dieses ziellose Umherwandern sei durch den modernen Tourismus ausgelöscht worden, schrieb Hakim Bey.

Der Tourismus sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der Tourist sucht verzweifelt die Kultur, die sich indessen in der Spektakel-Kultur aufgelöst hat. Der Autor:

Obgleich Touristen in der Natur oder der Kultur physisch anwesend zu sein scheinen, könnte man sie besser als Gespenster bezeichnen, die Ruinen heimsuchen und denen das Körperliche fehlt. Sie sind nicht richtig da, eher bewegen sie sich durch eine geistige Landschaft, eine Abstraktion, wobei sie Bilder sammeln statt Erfahrungen. Viel zu oft führen sie ihre Urlaubsreisen hinein in das Elend anderer Leute und tragen noch zu diesem bei.

Kommt das Reisen vom Krieg, vom Handel oder vom Pilgern? Der Pilger schläft an einer heiligen Stätte, um inspiriert zu werden; eine Frau reist nach Lourdes, um geheilt zu werden — alle Pilger suchen baraka, den Segen, der zwar nur eine Vorstellung ist, für sie aber real. Je mehr baraka »nachgefragt« wird, desto mehr gibt es davon; die Produktion ist unendlich (wie die Liebe). Der Tourist hingegen will nicht baraka; er verlässt sein säkulares Heim und sucht einen heiligen Ort auf, um den Unterschied zu genießen. Er sucht das Fremdartige und erfreut sich am Eindruck des Malerischen. Zusammengefasst:

Der Tourist konsumiert Unterschiede.

Der moderne Tourismus leitet sich vom Krieg her, behauptet Hakim Bey. Nach den Soldaten kamen wie die Geier die Vergewaltiger und Plünderer, und heute wollen die Touristen Bilder erbeuten. Heilige Stätten blieben Jahrhunderte intakt — doch nach 20 oder 30 Jahren Tourismus war ihre Bedeutung dahin.

Der Tourismus erhob sich als Symptom eines Imperialismus, der total war — wirtschaftlich, politisch und spirituell.

Die Blicke der Touristen in Reisebussen werden gelenkt und vermittelt durch ihre Kameras (oder Handys). Noch eine Stelle, in der der Autor zu Hochform aufläuft:

Im Extremfall nimmt die Vermittlung die Form der »guided tour« an, bei der jedes Bild von einem befugten Experten interpretiert wird, einem »Psychopomp« oder Geleiter der Toten, einem virtuellen Vergil in der Hölle der Bedeutungsalosigkeit … Der wahre Ort des Touristen ist nicht der Platz mit Exotischem, sondern eher der ortlose Ort (wörtlich für Utopie) des medialen Raums, des Grenzraums, des Zwischenraums … oder der Raum der Reise selbst, die industrielle Abstraktion des Flughafens oder die Maschinendimension eines Jets oder eines Autobusses.

… oder eines Kreuzfahrtschiffs

Der Tourismus der Zukunft könnte »CyberGnosis« als Ziel haben oder nach »Paranirwana und zurück« gehen, meinte der Autor damals schon, 1994. Er könnte ein virtuelles Reisen sein. Die 30 Jahre danach haben jedes seiner Worte bestätigt. — Wir waren auf Mallorca und Santorini, und auf beiden Inseln regt sich (zu Recht) Widerstand gegen den »Übertourismus«. Das Wenige an Geld, was bei den Einwohnern ankommt, wiegt den Verlust an Lebensqualität nicht auf und den Verlust der Seele gleich gar nicht.

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