Erdlinge

Der Artikel von Sally Breen über die japanische Autorin Sayaka Murata in der Sydney Review of Books ist schon über 4 Jahre alt, doch gute Essays verlieren nicht an Überzeugungskraft. Ich fand die Ausführungen glanzvoll und will kurz darüber schreiben.

Wie wir bei Wikipedia lesen können, ist die 1979 geborene Sayaka Murata das »neue Gesicht des literarischen Japans«, seit ihr Buch Konbini ningen weltweiten Erfolg hatte. (Da fällt mir der Name Banana Yoshimoto ein, 1964 geboren, Sie war auch einmal ein japanischer weiblicher »shooting star« der Literatur.) Murata war damals, 2016, allerdings schon die Verfasserin von 11 Romanen und galt als Kultautorin.

Das Buch verkaufte sich eineinhalb Millionen Mal und wurde in 33 Sprachen übersetzt. Auf Englisch heißt es Convenience Store Woman, auf Deutsch Die Ladenhüterin. Dies ist Wortspiel um des Wortspiels willen und ging batürlich daneben. Die Angestellte ist nicht zurückgeblieben oder von gestern; ganz im Gegenteil: Sie ist wach und kritisch, und ihre Begegnungen in dem Laden bringen sie dazu, über sich selbst nachzudenken und Normen in Frage zu stellen, die in Japan unverrückbar scheinen.

Erdlinge (Earthlings), ihr letztes Buch, hat Sally Breen zur Rezension bewegt. Sie meinte: »Leute aus dem Westen wissen offenbar nicht, wie sie das Buch lesen sollen.« Sie kennen die japanische Tradition in der Fiction nicht, das Widerspiel von Licht und Dunkelheit, und für »offensiv« halten sie die die Szenen mit Gewalt und Sex. Murata beschreibt Asexualität (oder beschreibt sie nicht), Selbst-Sex, Sex mit Objekten und gar mit der Erde.

Sie bemerkte einmal, sie habe sich von einem allsehenden Gott beobachtet gefühlt, der ihr befohlen habe, über Sex in einer gewissen Weise zu schreiben. Literatur hält sie für ein Refugium; es könnte doch wenigstens ein Zimmer geben, in dem man die Wände dunkel halten und auch mal das Licht ausschalten könne; manches sei zu grell und deutlich, und sie würde manches gern in den Schatten schieben (es gab einen Hinweis auf Tanizakis Lob des Schattens). – Unsere TestpilotInnen tauchen nicht alle ins Licht; ein Teil von ihnen gleitet in eine samtene, warme Dunkelheit: in eine Schwärze, die wohltut.

Die Handlung: Natsuki ist ein starkes, unabhängiges Mädchen und verliebt in Yuu, der sich für einen Außerirdischen hält. Schon mit 12 Jahren haben sie Sex miteinander. Beide leiden unter familiärem Druck und fliehen in eine Fantasiewelt. Die Erwachsenen wirken, als seien sie betäubt, als stünden sie unter einem bösen Zauber. Zitiert wird Yukio Mishima, der einmal sagte, Japan werden von zwei Strömungen beherrscht: von Eleganz und von Brutalität. – Die Familie trennt die beiden Störenfriede.

Dann ist Natsuki plötzlich 30 und lebt mit ihrem Ehemann Tomoya zusammen: ohne Sex. (Angeblich lehnt die Hälfte der japanischen Mädchen zwischen 16 und 24 Jahren intime Beziehungen ab.) Dann stößt Yuu zu ihnen, und die drei möchten sich am liebsten von der Gesellschaft abkoppeln (oder von der ganzen Welt). Die Unvorhersehbarkeit von Muratas Sprache sei ihre größte Stärke, schreibt Sally Breen; diese Autorin sei in keine Schublade zu stecken, sie schreibe nicht für die Masse. In deutschen Rezensionen zu Earthlings treten die Adjektive verworren, verwirrend und düster auf.

Sally Breen meint (und ich verweise auf Die Anomalie):

In vielen zeitgenössischen literarischen Texten wird dem Leser zu bewusst deutlich gemacht, wo die herrschenden Ideologien manipuliert werden. Das Licht ist zu hell. Wir können alles sehen. Die Kunst wird der Maschine geopfert, sie erhält eine reduzierte Funktion zugeschrieben. … oft ist der Effekt statisch, vorhersehbar oder überdeterminiert. Es fehlt an Überraschung, an einem Sinn für Schatten, Licht und Vorstellungskraft. Ich würde mit der Murata in einen verbeulten alten Toyota steigen und mich von ihr überallhin fahren lassen. 

 

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