Flugverkehr (177): Leuchtende Konturen
Noch ein Ausschnitt aus dem Nachtflug, natürlich ein poetischer. Fabien war im Flugverkehr 176 in die Nacht unterwegs; eine Stunde später wird Unwetter ihn einkreisen. Er und sein Funker haben nur noch für 30 Minuten Sprit, als sich in plötzlich oberhalb der dräuenden Dunkelheit eine Öffnung zeigt wie ein Fenster, und da fliegt Fabien hinein.
Und in ebendiesem Augenblick war es, dass über seinem Kopf in einer Lücke des Gewölks ein paar Sterne sichtbar wurden, wie ein tödlicher Köder am Grund einer Reuse.
Er sagte sich wohl, dass dies eine Falle sei; man sieht drei Sterne in einem Loch, man steigt zu ihnen hinauf, dann kann man nicht wieder hinunter und mag da oben bleiben und Sterne beißen …
Aber sein Hunger nach Licht war so stark, dass er aufstieg.
(…)
XVI
Er stieg, die Schwankungen nun besser ausgleichend, dank dem Halt, den sein Blick an den Sternen hatte. Ihr blasser Schein zog ihn magnetisch an. Er hatte so lange auf der Suche nach einem Licht geschmachtet, dass er auch von dem dürftigsten nicht wieder abgelassen hätte, sondern hungrig darumgekreist wäre, wie um einen Herbergsschimmer, bis zu seinem Tod. Und hier stieg er zu ganzen Gefilden aus Licht hinauf.
Er erhob sich nach und nach in den Brunnenschacht, der sich über ihm geöffnet hatte und sich unter ihm wieder schloss. Und die Wolken verloren, je höher er stieg, ihre schmutzige Düsternis, und es glitten immer reinere und weißere Wolken auf ihn zu. Fabien tauchte empor.
Staunen überwältigte ihn: die Helligkeit war so, dass sie ihn blendete. Er musste sekundenlang die Augen schließen. Er hatte nie zuvor geglaubt, dass Wolken bei Nacht blenden können. Aber der volle Mond und alle Sternbilder verwandelten sie in ein gleißendes Meer.
Das Flugzeug war mit einem Schlage, mit der Sekunde, in der es hervortauchte, in eine Stille geraten, die wie ein Wunder schien. Nicht eine Luftschwankung hob oder senkte es. Wie eine Barke, die die Mole passiert, glitt es in stille Gewässser. Es schwamm in niegesehenem, entlegenem Teil des Himmels, wie in einer Bucht der Insel der Seligen. Das Wettergewölk unter ihm war war wie eine andere Welt, dreitausend Meter dick, von Böen, Wasserwirbeln, Blitzen durchrast; aber die Oberfläche, die es den Gestirnen zukehrte, war wie Kristall und Schnee.
Es war Fabien zumute, als sei er in Zaubersphären geraten, denn alles wurde leuchtend, seine Hände, seine Kleider, seine Tragdecks, und das Licht kam nicht von den Gestirnen herab, sondern löste sich, unter ihm und rings um ihn her, aus dieser weißen Fülle. Die Wolken drunten strahlten allen Schnee wider, den sie vom Monde empfingen. Die rechts und links, hoch wie Türme desgleichen. Eine Milch von Licht floß und schwamm allenthalben, in der das Flugzeug badete. Fabien sah sich um und sah, dass der Funker lächelte.
»Besser hier?« schrie er.
Aber die Stimme verlor sich im Dröhnen des Flugs. Lächeln war die einzige Verständigung. ›Ich bin vollkommen wahnsinnig‹, dachte Fabien, ›dass ich hier lächle: wir sind verloren.‹
Gleichviel; tausend schwarze Arme hatten ihn freigegeben. Man hatte ihm die Fesseln gelöst, wie einem Gefangenen, den man eine Weile allein unter Blumen spazieren lässt.
›Zu schön‹, dachte Fabien. Sie irrten unter Sternen umher, dichtgehäuft ringsum wie ein Schatz, in einer Welt, wo nichts, absolut nichts Lebendiges war außer ihm, Fabien, und seinem Gefährten. Gleich jenen Dieben im Märchen, die in die Schatzkammer eingemauert sind, aus der sie nicht wieder herauskommen werden. Unter eisfunkelndem Geschmeide irren sie umher, unermesslich reich, doch zum Tode verurteilt.
aus: Nachtflug, Rowohlt 1979, S. 113-116
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