Wilhelm Grimm: Über das Märchen

In einem Buch gefunden: Eine kleine Abhandlung von Wilhelm Grimm  (1786-1859) über das Märchen. Die Zeit hatte mal einen Artikel darüber, wie Wlhelm Grimm das Märchen »erfand«: auch lesenswert. Ich schreibe also die zwei Seiten von Grimm ab und stelle sie auf manipogo, viel Vergnügen.

Über das Märchen

Kindermärchen werden erzählt, damit in ihrem reinen und milden Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens aufwachen und wachsen; weil aber einen jeden ihre einfache Poesie erfreuen und ihre Wahrheit belehren kann und weil sie beim Haus bleiben und forterben, werden sie auch Hausmärchen genannt. Die geschichtliche Sage fügt meist etwas Ungewöhnliches und Überraschendes, selbst das Übersinnliche geradezu und ernsthaft an das Gewöhnliche, Wohlbekannte und Gegenwärtige, weshalb sie oft eckig, scharf und seltsam erscheint; das Märchen aber steht abseits der Welt in einem umfriedeten, ungestörten Platz, über welchen es hinaus in jene nicht weiter schaut. Darum kennt es weder Namen noch Orte noch eine bestimmte Heimat, und es ist etwas dem ganzen Vaterlande Gemeinsames.
Die meisten der hier geschilderten Zustände des Lebens sind so einfach, aber, wie alle wahrhaftigen, doch immer wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brot mehr und müssen in dieser Not die Kinder im Walde zurücklassen, oder eine böse Stiefmutter lässt sie darben und leiden und möchte sie gar verderben, aber Gott sendet seine Hilfe, er schickt die Tauben, damit sie Nahrung bringen oder dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche lesen. Dann sind die Geschwister in des Waldes Einsamkeit verlassen, der Wind erschreckt sie, Furcht vor den wilden Tieren, aber sie stehen sich in allen Treuen bei; das Brüderchen weiß den Weg nach Haus wiederzufinden, oder das Schwesterchen leitet es, wann die Hexe es in ein Rehkälbchen verwandelt, sucht ihm Kräuter und Moos zum Lager; und welch ein Reiz liegt in diesem heimlichen Waldleben, nach welchem sich jeder natürliche Mensch gewiß einmal gesehnt hat! Oder es sitzt jahrelang schweigend und emsig arbeitend, um ein Hemd zu nähen, das den Zauber vernichtet.
Der Umkreis dieser Welt ist bestimmt abgeschlossen; Könige und Königskinder, treue Diener und ehrliche Handwerker, nachdem der Erzähler sie kennt, Fischer, Müller, Köhler und Hirten, die der Natur am nächsten bleiben, erscheinen darin; was sich sonst hervorgetan, ist ihr unbekannt. Auch, wie in einer goldenen Zeit, ist noch alles belebt: Sonne, Mond und Sterne sind zugänglich und geben Geschenke; in den Bergen arbeiten Zwerge nach dem Erz, in dem Wasser schlafen Nixen, die Tiere, Vögel (Tauben sind die hilfreichsten), Pflanzen, Steine reden und wissen ihr Mitgefühl auszudrücken; das Blut ruft und spricht, und so übt diese Poesie schon Rechte, wonach die spätere nur in Gleichnissen strebt. Dieses Zusammenleben der ganzen Natur hat eine unbeschreibliche Lieblichkeit in sich, und wir möchten lieber dem Gespräch der Sterne mit einem armen, verlassenen Kinde als dem Klang der Sphären zuhören.
Das Unglück ist eine finstere Gewalt, ein ungeheurer, menschenfressender Riese, der doch besiegt wird, da eine gute Frau oder Tochter zur Seite steht, und der nur die Freude am Glück erhöht, das sich dann endlich auftut. Das Böse ist nicht ein Kleines, Nahstehendes und das Schlechteste, weil man sich daran gewöhnen könnte, sondern etwas Entsetzliches, streng Geschiedenes, dem man sich nähern darf. Ebenso furchtbar auch die Strafe: Schlangen und giftige Würmer verzehren ihr Opfer, oder in glühenden Eisenschuhen muß es sich zu Tode tanzen.
Das alles redet unmittelbar zum Herzen und bedarf keiner Erklärung, aber bald ergibt sich noch eine tiefere Bedeutung: die Mutter wird in dem Augenblick ihr rechtes Kind wieder im Arme haben, wo sie den Wechselbalg, den ihr die Hausgeister dafür gegeben, zum Lachen bringen kann, denn in dem Lächeln fängt das Leben des Kindes an und währt in der Freude fort, und darum reden beim Lächeln im Schlaf die Engel mit ihm. Eine Viertelstunde täglich ist über der Macht des Zaubers, wo die menschliche Gestalt frei hervortritt, weil keine Gewalt uns ganz einhüllen kann und jeder Tag Augenblicke gewährt, wo der Mensch alles Falsche abschüttelt und frei und ungebunden aus sich selbst herausblicken kann. Dagegen wird der Zauber auch nicht ganz gelöst, ein Fehler wird begangen und ein Schwanenflügel bleibt statt des Arms, oder weil eine Träne gefallen, ist ein Auge mit ihr verloren. Durch den Dummling wird die weltliche Klugheit gedemütigt, denn er, weil er reinen Herzens ist, gewinnt allein das Glück. Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung fähig, denn da sie aus dem Leben aufgestiegen ist, kehrt sie auch immer wieder zu ihm zurück; sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; darin ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergibt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es erwächst daraus – wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüte, ohne Zutun des Menschen
.
Märchenbeiträge auf manipogo:
Bleibt nichts; Frau Holle; Gevatter Tod; Das Totenhemdchen; Die Bremer Stadtmusikanten; Die drei Sprachen; Der süße Brei.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.