Bewusstes Trinken

Sacred World ist eines der zehn Bücher, die ich auf eine einame Insel (oder wenn ich mal einen Minat in Apulien leben werde) mitnehmen möchte. Ich habe mich schon oft aus ihm bedient, und der Autor des 1995 erschienenen Buches, Jeremy Hayward, erinnert oft an den Dorje Dradul, Chögyam Trungpa Rinpoche, der auch das bewusste Trinken lehrte, bei dem es um Alkohol geht. 

250px-TrungpaDorje Dradul ist wohl ein Ehrentitel und heißt etwas wie verehrter Lehrer. Auch Buddhisten vergangener Jahrhunderte trugen diesen Titel. Der Dorje Dradul des 20. Jahrhunderts war Chögyam Trungpa Rinpoche, der von 1939 bis 1987 lebte. Er brachte den tibetischen Buddhismus in die Vereinigten Staaten. 1959, als China Tibet an sich riss, flüchtete er nach Indien und ging dann nach England, um zu studieren. 1970 schlug er sein Heim in Boulder im US-Staat Colorado auf und gründete mehrere buddhistische Znetren. Er war ein verehrter Weisheitslehrer. Jeremy Hayward erinnerte sich, dass er, wenn der Dorje Dradul den Raum betrat, eine unglaubliche Kraft gepaart mit Humor verspürte (Porträt aus: Tibetan Buddhist Encyclopedia).

Seine Liebe zu seinen Studenten war so groß, dass sie schwer auszuhalten war. Ein Freund sagte mir, dass er einmal nach längerer Abwesenheit in ein Zimmer gegangen sei, in dem Chögyam Trungpa mit einigen Freunden saß. Mein Freudn ging hin, um ihn zu umarmen. »Ich spürte so viel Wärme und Liebe bei dem Dorje Dradul«, sagte er mir, »dass ich einen regelrechten körperlichen Schock empfing und plötzlich spontan zurückwich. Ich konnte es einfach nicht ertragen, so stark geliebt zu werden.« Wegen der Ausstrahlung seiner Liebe und seiner unverbrüchlichen Authentizität wurde er intensiv und leidenschaftlich von Tausenden Studenten geliebt.

Er trank gern Sake, den japanischen Reiswein. Er war deswegen nicht verlegen, schreibt Hayward, versuchte es auch nicht zu verbergen und schämte sich auch nicht deswegen. Seine Studenten versuchten ihn zur Mäßigung anzuhalten, er aber gab zur 255px-TesshuAntwort: »Ihr versteht nicht. Behindert meine Arbeit nicht.« Er sei etwas Besonderes, machte er klar, und die Studenten sollten ihm nicht nacheifern wollen. In der japanischen Zen-Tradition gibt es Geschichten von Lehrern, die Alkohol gewissermaßen als Mittel benutzten, ihre Zuhörer aus ihrem Egoismus und ihrer Bürgerlichkeit herauszureißen. Der Schwertkämpfer Yamaoka Tesshu (1836-1888; im Bild rechts) trank große Mengen Alkohols und provozierte mit derbem Humor und verwegenen Aktionen. Goethe trank zum Mittagessen stets eine Flasche Wein, und sein Zeitgenosse Franz Anton Mesmer hielt es genauso. Graham Greene trank gern. Alle drei wurden über 80.

Chögyam Trungpa Rinpoche schrieb den Artikel Alkohol als Medizin oder Gift. Hier taucht des öfteren der Begriff awareness auf, den man heute modisch mit Achtsamkeit übersetzen würde. Ich habe Gewahrsam verwendet, und Bewusstsein ginge sicher auch.

Er vermerkte:

Ob Alkohol als ein Gift oder eine Medizin wirken wird, hängt von dem eigenen Gewahrsam (awareness) beim Trinken ab. Bewusstes Trinken — sich seines geistigen Zustands während des Trinkens bewusst zu bleiben — wandelt die Wirkungen des Alkohols um. Hier gehört zum Gewahrsam ein Zusammenziehen des eigenen Systems im Sinn eines intelligenten Verteidigungsmechanismus. Alkohol wird zerstörerisch, wenn man sich der Fröhlichkeit anheimgibt: Ausgelassensein erlaubt dem Gift, in den Körper einzutreten. … Die Kreativität des Alkohols beginnt, wenn eine Art Tanz mit seinen Wirkungen vorliegt — wenn man die Wirkungen des Getränks mit Humor nimmt. Für den bewussten Trinker oder den Yogi liegt der Vorzug des Alkohols darin, dass er ihn zur gewöhnlichen Realität zurückführt, damit man sich nicht in der Meditation über die Nicht-Dualität verliert. … Aber natürlich wird der gewöhnliche Trinker, der mit diesem transzendentalen Stil des Trinkens wetteifern oder ihn imitieren will, seinen Alkohol in Gift verwandeln. 

Da fällt mir ganz spontan ein Gespräch mit den Teilnehmern an einem Seminar (im Jahr 2000) ein, in dem es darum ging, dass man manchmal viel trinken kann, ohne betrunken zu werden — wenn man währenddessen diskutiere und gründlich abgelenkt sei. Auch das Verhalten der anderen mag einen beeinflussen. Und eine Kollegin berichtete von einer Freundin, die von alkoholfreiem Sekt beschwipst wurde; der Placebo-Effekt spielt mitunter auch eine Rolle. Doch dies alles ist natürlich weit weg vom transzendentalen Trinken der Buddhisten.

Ich trinke jeden Abend meine zwei Augustiner-Biere. Für mich ist es eine Gewohnheit, die mein Schreiben begleitet und vielleicht die Konzentration verstärkt. Betrunken werde ich davon nicht; ans Bier sind wir ja gewöhnt, wir Bayern, es ist unser flüssiges Brot, und es steckt uns in den Genen.

 

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