Heinrichs Traum

Eher aus Langeweile schlug ich das Buch Heinrich von Ofterdingen auf und fing es zu lesen an. Es wurde erstmals 1802 veröffentlicht, nach dem Tod seines frühvollendeten Autors Friedrich von Hardenberg, der als Novalis schrieb. Wir werden in einen Traum des jungen, 20-jährigen Heinrich hineingezogen, und darin passiert eine Menge! Da müssen wir an Reinkarnation denken, an die zu jener Zeit auch Lessing glaubte.

Der Roman, der Fragment blieb, liegt im Projekt Gutenberg im Vollltext vor. Es beginnt so:

Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. »Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben«, sagte er zu sich selbst; »fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn‘ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken. So ist mir noch nie zumute gewesen: es ist, als hätt ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab‘ ich damals nie gehört.

William Blake (1757-1827) sagte einmal: »Stell dir vor, du hast in der Nacht von einer blauen Blume geträumt. Du wachst auf und hältst eine blaue Blume in der Hand. Was dann?« Genial.

Heinrich fragt sich, wo der Fremde herkam, dessen Reden ihn so sehr ergriffen. Er träumt ja von den Rittern und den Troubadouren, und das Buch von 1802 spielt anscheinend in der Vergangenheit, vielleicht Anfang des 17. Jahrhunderts. Damals war ein Fremder eine Kostbarkeit, denn er brachte oft Welterfahrung und Geschichten aus fernen Ländern mit. Der Fremde wurde geachtet, und auch die Alten wurden geachtet. Sein Vater, der im zweiten Teil seinen Traum berichtet, wird von einem Alten unterrichtet, der damals vielleicht nur ein 60-Jähriger war.

Jedenfalls wird die blaue Blume schon erwähnt, die ich zufällig (doch es gibt keinen Zufall) heute in der Gründungsgeschichte des Tempels Swamabhunath fand, des heiligsten Tempels Nepals. Oben auf ihm sind die Augen Buddhas und blicken in alle Himmelsrichtungen, und ich besitze ein schwarzes T-Shirt mit den Augen Buddhas, denn Giovanna war dort.

Die Wikipedia erzählt:

Einst war das ganze Tal von Kathmandu ein großer See. Eines Tages entdeckten Sadhus eine Lotosblüte auf der Oberfläche des Sees. Über Jahrhunderte pilgerten Gläubige an die Ufer des Sees und verehrten die Lotosblüte als Symbol Gottes. Eines Tages stieg eine leuchtende Flamme aus dem Lotoskelch, Swayabhunath entstand oder besser gesagt erschuf sich selbst – so sagt es sein Name: »Der aus sich selbst erstandene Gott«. Die Manifestation des Buddha leuchtete noch viele weitere Epochen, bis der Boddhisattva Manjushri aus China nach dreimaliger Umrundung des Sees eine Schlucht in die südliche Hügelkette schlug und mit dem Abfluss des Wassers auch die Flamme verschwand. Die blauleuchtende Lotosblume pflanzte er auf den Hügel von Swayambhunath.

Die blauleuchtende Lotosblume! Die Sage könnte also 2000 Jahre alt sein, denn die innersten Bauten des Tempels sind noch 500 Jahre älter. Der indische Gott Krishna wird meist mit blauer Hautfarbe dargestellt, denn das Blau versinnbildlicht das unendliche Bewusstsein, für das Krishna (neben anderem) steht. Laut Tibetischem Totenbuch erscheint dem Verstorbenen am ersten Tag das strahlende blaue Licht des Skandha des Bewusstseins, alldurchdringend und gesandt von Vairocana.

Heinrich im Buch entschlummerte. Zur Zeit des Sturm und Drang und der Romantik (von 1790 bis 1830) wurden in Büchern viele Träume erwähnt, die gleichberechtigt neben der Alltagsrealität stehen durften, und Schauergeschichten und Märchen hatten auch ihren Platz. Die Fantasie musste das bringen, was heute uns die Fantasy-Filme zeigen.

Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wunderliche Tiere sah er; er lebte mit mannigfaltigen Menschen, bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er geriet in Gefangenschaft und die schmählichste Not. Alle Empfindungen stiegen bis zu einer niegekannten Höhe in ihm. Er durchlebte ein unendlich buntes Leben; starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft, und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner Seele, klarer und bleibender wurden die Bilder.

Das war die Stelle, die von Reinkarnation sprach: »Er durchlebte ein unendlich buntes Leben; starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft …« Im Traum erinnerte sich Heinrich früherer Leben und an den Tumult der Erfahrungen, die wir alle (vorerst) vergessen haben.

Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunkeln Walde allein. … Endlich gelangte er zu einer kleinen Wiese, die am Hange des Berges lag. Hinter der Wiese erhob sich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öffnung erblickte, die der Anfang eines in den Felsen gehauenen Ganges zu sein schien. Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm schon von fern ein helles Licht entgegen glänzte. Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes stieg, und oben in unzählige Funken zerstäubte, die sich unten in einem großen Becken sammelten; der Strahl glänzte wie entzündetes Gold; nicht das mindeste Geräusch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauspiel.

Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit dieser Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, niegesehene Bilder entstanden, die auch ineinanderflossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten.

Was dieser letzte Satz wohl heißt? Die sich an ihm »augenblicklich verkörperten« …? Novalis hatte keine Berührungsängste, was Erotik betraf. Es ist nun ein langer Beitrag geworden, aber diese Höhle ist so wunderhübsch geschildert, das darf man nicht unterschlagen. Mir fiel dabei der Song Carpet Crawlers von Genesis ein, aus dem Album Lamb Lies Down on Broadway, das auch voller mythischer Bezüge ist, die vermutlich niemand näher untersucht hat. — Weiter:

Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloß. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft.

Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über diese Störung zu sein; vielmehr bot er seiner Mutter freundlich guten Morgen und erwiderte ihre herzliche Umarmung.

Dieses Gesicht in der blauen Blume, was heißt es? Seine Zwillingsseele? Seine Geistführerin? Die Blume leitet jedenfalls seine Sehnsucht, und Heinrich reist fort, zu Fuß, nach Italien und anderswohin. Doch zuerst schildert sein Vater seinen Traum.

Das Bild oben rechts ist von Rolf Hannes, das oben links von Russell (AE), und das rechts außen von William Blake.

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