Der Traum von Heinrichs Vater

Ja, Heinrichs Vater hatte auch einen Traum. Was fällt einem da ein? Martin Luther King: »I Had a Dream.« (Kann man jetzt für 4 Jahre vergessen. Sieht nach einem Alptraum aus, einem Alptrump.) In ihm kommt auch eine blaue Blume vor, sowas! Die blaue Blume der Romantik … das sind heute, meine ich, die Nahtod-Erfahrungen, die man in unsere Welt implantieren müsste. Das Goldene Zeitalter! (Aber da sind wir wieder bei Trump.)

»Ich war eines Abends«, fing der Vater an, »umhergestreift. Der Himmel war rein, und der Mond bekleidete die alten Säulen und Mauern mit seinem bleichen schauerlichen Lichte. Meine Gesellen gingen den Mädchen nach, und mich trieb das Heimweh und die Liebe ins Freie. Endlich ward ich durstig und ging ins erste beste Landhaus hinein, um einen Trunk Wein oder Milch zu fordern. Ein alter Mann kam heraus, der mich wohl für einen verdächtigen Besuch halten mochte. Ich trug ihm mein Anliegen vor; und als er erfuhr, daß ich ein Ausländer und ein Deutscher sei, lud er mich freundlich in die Stube und brachte eine Flasche Wein.

Ja, da schätzte man anscheinend noch den Fremden. Man erkundigt sich freundlich nach dessen Leben.

Er hieß mich niedersetzen, und fragte mich nach meinem Gewerbe. Die Stube war voll Bücher und Altertümer. Wir gerieten in ein weitläuftiges Gespräch; er erzählte mir viel von alten Zeiten, von Malern, Bildhauern und Dichtern. Noch nie hatte ich so davon reden hören. Es war mir, als sei ich in einer neuen Welt ans Land gestiegen. Er wies mir Siegelsteine und andre alte Kunstarbeiten; dann las er mir mit lebendigem Feuer herrliche Gedichte vor, und so verging die Zeit, wie ein Augenblick. Noch jetzt heitert mein Herz sich auf, wenn ich mich des bunten Gewühls der wunderlichen Gedanken und Empfindungen erinnere, die mich in dieser Nacht erfüllten. In den heidnischen Zeiten war er wie zu Hause, und sehnte sich mit unglaublicher Inbrunst in dies graue Altertum zurück.

In Novalis‘ Buch klingt immer wieder Sehnsucht nach vergangenen Zeiten an. Manche fühlten die Zeit um 1800 als zu modern und wünschten sich ins 14. Jahrhundert zurück, zu Rittern und Königen und Prinzessinnen. (Vom niederen Volk sprach man nicht, es existierte nicht. Auch Heinrichs Eltern sind wohl begütert.)

Endlich wies er mir eine Kammer an, wo ich den Rest der Nacht zubringen könnte, weil es schon zu spät sei, um noch zurückzukehren. Ich schlief bald, und da dünkte michs, ich sei in meiner Vaterstadt und wanderte aus dem Tore. Es war, als müßte ich irgendwohin gehn, um etwas zu bestellen, doch wußte ich nicht wohin, und was ich verrichten solle. Ich ging nach dem Harze mit überaus schnellen Schritten, und wohl war mir, als sei es zur Hochzeit. Ich hielt mich nicht auf dem Wege, sondern immer feldein durch Tal und Wald, und bald kam ich an einen hohen Berg. Als ich oben war, sah ich die Goldne Aue vor mir, und überschaute Thüringen weit und breit, also daß kein Berg in der Nähe umher mir die Aussicht wehrte. Gegenüber lag der Harz mit seinen dunklen Bergen, und ich sah unzählige Schlösser, Klöster und Ortschaften. …

Es geht in den Berg hinein, er sieht in einer Höhle einen Greis »in einem langen Kleide vor einem eisernen Tische, und schaute unverwandt nach einem wunderschönen Mädchen, die in Marmor gehauen vor ihm stand. Sein Bart war durch den eisernen Tisch gewachsen und bedeckte seine Füße.« Das ist die Sage von König Barbarossa, der einst wiederkommen wird. Der Alte nimmt den jungen Mann, Heinrichs Vater, wieder mit.

Nach einer Weile sah ich von weitem eine Dämmerung, als wollte das Tageslicht einbrechen. Ich eilte darauf zu, und befand mich bald auf einem grünen Plane; aber es schien mir alles ganz anders als in Thüringen. Ungeheure Bäume mit großen glänzenden Blättern verbreiteten weit umher Schatten. Die Luft war sehr heiß und doch nicht drückend. Überall Quellen und Blumen, und unter allen Blumen gefiel mir eine ganz besonders, und es kam mir vor, als neigten sich die andern gegen sie.«

»Ach! liebster Vater, sagt mir doch, welche Farbe sie hatte«, rief der Sohn mit heftiger Bewegung.

»Das entsinne ich mich nicht mehr, so genau ich mir auch sonst alles eingeprägt habe.«

»War sie nicht blau?«

»Es kann sein«, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs seltsame Heftigkeit Achtung zu geben.

»Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter stand bei mir, und sagte: Du hast das Wunder der Welt gesehn. Es steht bei dir, das glücklichste Wesen auf der Welt und noch über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in acht, was ich dir sage: wenn du am Tage Johannis gegen Abend wieder hierher kommst, und Gott herzlich um das Verständnis dieses Traumes bittest, so wird dir das höchste irdische Los zuteil werden; dann gib nur acht, auf ein blaues Blümchen, was du hier oben finden wirst, brich es ab, und überlaß dich dann demütig der himmlischen Führung. Ich war darauf im Traume unter den herrlichsten Gestalten und Menschen, und unendliche Zeiten gaukelten mit mannigfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik.

Der Johannistag war der 24. Juni, Geburt Johannes des Täufers und auch der längste Tag des Jahres, der Gegenpol zu Weihnachten, dem kürzesten Tag.

Darauf ward alles wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich sah deine Mutter mit freundlichem, verschämten Blick vor mir; sie hielt ein glänzendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zusehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und sich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beide in seinen Arm nahm, und so hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüssel mit dem saubersten Schnitzwerk aussah. Dann erinnere ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abschied von meinem gastfreien Wirt, der mich bat, ihn oft wieder zu besuchen, was ich ihm zusagte, und auch Wort gehalten haben würde, wenn ich nicht bald darauf Rom verlassen hätte, und ungestüm nach Augsburg gereist wäre.«

In Augsburg ehelicht er dann eine Frau, die ihm den kleinen Heinrich schenkt. Er solle das blaue Blümelein abbrechen, erfuhr er. Achten wir also auf die blaue Blume in unserem Leben, dieses Symbol, das uns immer wieder begegnet und uns begleitet; ihm müssen wir treu sein!

 

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