Der Vorraum des Todes?
»Und jetzt ist das frühere Irrenhaus das Haus des Schlummers, der Vorraum des Todes.« Das schrieb Guido Ceronetti (1927-2018) über die gigantische Anlage der Fregonaia auf den Hügeln von Lucca in der Toskana, deren Frauenabteilung 30 Jahre lang Mario Tobino (1910-1991) leitete. 1952 wurde das erste Psychopharmakum eingeführt, 1978 wurden viele »Verrückte« nach Hause geschickt, psychiatrische Kliniken geschlossen.
Tobino, der große Autor, nannte die Einrichtung, die auch Maggiano hieß, für seinen Roman Magliano, und das Buch hieß Die letzten Tage von Magliano. Hab ich gelesen, es war schön damals, die paar Meter zur Stadtteilbücherei zu gehen und drei, vier Bücher mitzunehmen auf die römische Terrasse. Ceronetti, der in seinem Buch Albergo Italia aus seinem Land berichtete, war 1985 in der Fregonaia, wo in früheren Jahren 2000 Menschen untergebracht waren. Nun waren es noch 500, und alle befanden sich im Halbschlaf.
1985, das war sieben Jahre nach dem Gesetz 180, das die Schließung der Irrenhäuser (manicomi) beschloss. Es war Franco Basaglia (1924-1980), der die katastrophalen Zustände dort anprangerte und in einem Gesetz von 1978 deren Schließung erreichte. Man hätte doch Geld lockermachen können, damit die Irren besser behandelt würden. Nein, man schüttete das Kind mit dem Bad aus. Man schloss die Irrenhäuser, jagte die Kranken weg und hielt das für fortschrittlich und liberal. Viele verloren damit ihre Heimat, und da ihre Verwandten sie nicht aufnehmen wollten, nahmen sich viele das Leben.
Ich weiß nicht, wie damals die Diskussion verlief. Man könnte es aber nachvollziehen. Da gab es Psychiater und Agitatoren, die hielten die Geisteskrankheit für eine Zuschreibung und die Einschließung der Verrückten für eine Untat. Auch in Demokratien gibt es Demagogie; wer besser argumentiert, gewinnt, und die Verwalter der Welt lügen sich diese gern zurecht, bis alle glauben, dass es den Wahnsinn nicht gibt. (Ja, die correctness. Etwas sprachlich beschönigen und entschärfen, statt die Realität anzuerkennen!) Der Befreiungsschlag der Politik wirkte progressiv, doch die Folgen waren schlimm. Mario Tobino, der es wissen musste, behauptete immer, dass der Wahnsinn sehr wohl existiere. (Viele Menschen werden durch andere wahnsinnig gemacht, Wahnsinn ist eine Reaktion auf schreckliche Lebensumstände, doch das ist ein anderes Thema.)
Die armen Menschen waren seit 25 Jahren ohnehin durch Psychopharmaka gedämpft, die ihnen ihr Lebenszentrum nahmen. Viele Verrückte hatten eine Identität, die freilich eine andere war als die in der normalen Welt, aber sie waren jemand. Durch die Medikamente wurden sie Hüllen und Schlafwandler in einem Vorraum des Todes. Früher wurde in den manicomi geschrien und getobt, jetzt war plötzlich alles still. Man hielt das für einen Fortschritt, und heute sind psychiatrische Kliniken ohne die Psychopharmaka undenkbar. Für die Mitarbeiter sind sedierte Bewohnerinnnen und Bewohner natürlich pflegeleicht, aber richtig ist das nicht.
Verwandte Artikel:
Doktor, Tod und Teufel – Teresa und Adriatico – Verrückte und Verrückung – Abgestempelt, eingesperrt – Hinter Mauern