Fahrraddiebe in Kabul
Sollte ich auch als Koinzidenz begreifen, was ich mit dem persischen Film Streunende Hunde erlebte? Ich aß vor 3 Wochen in Freiburg bei Afghanen, die ich lange kenne, und am Abend sollte es ein afghanischer Film sein. Er würde eineinhalb Stunden dauern, der Regisseur interessierte mich vorerst nicht, doch da war gleich zu Beginn ein süßes vielleicht 8-jähriges Mädchen, das einen Hund rettet. Ich war überredet.
Doch es steckte mehr dahinter, viel mehr. Immer öfter mache ich die Erfahrung, dass ich zufällig Filme auswähle, die sich dann als bedeutsam für mich entpuppen; als würden sie mir in die Hand gespielt, als leite mich jemand Unsichtbares. Gleich wird das klarer. Der Film ist von 2003, also über 20 Jahre alt, jedoch erst seit 1. März auf Youtube zu sehen. Den Schlussgag muss ich dennoch verraten, er stuft den Film als »fahrradhistorisch« ein. Man kommt mit, weil es englische Untertitel gibt.
Jedenfalls: Marzieh Makhmalbaf ist die Regisseurin von Stray Dogs (am Beginn des Films heißt sie Marzieh Meshkini, vermutlich ihr Mädchenname), und sie ist die Frau von Mohsen, dessen Tochter Samira ja Cinco de la Tarde gedreht hat. Samira ist die Tochter der ersten Frau des persischen Rergisseurs. In der Makhmalbaf-Sippe drehen sie alle Filme, er besitzt auch eine eigene Gesellschaft. Und er und die Seinen haben ein Herz für Afghanistan.
Ich habe den Film gemocht. Gol-Ghotai, die Kleine, wickelt jeden um ihren Finger, man kann ihr nichts abschlagen. Sie rettet erst einen kleinen weißen Mischlingshund, und dann schlafen sie und ihr Bruder Zahed in der Zelle ihrer Mutter. Ihr Vater war 5 Jahre vermisst und man hielt ihn für tot; die Mutter heiratete erneut (der zweite Mann schlug sie dann öfter als der erste), doch ihr Mann, ein Taliban, kam zurück. Also galt seine Ex-Frau als Ehebrecherin und Hure und wurde inhaftiert. Auch der Vater saß in (amerikanischer) Haft.
Der Gouverneur verbietet plötzlich, dass die Kinder bei der Mutter sein dürfen. Sie schlafen also bei großer Kälte im Freien. Da gibt es eine Szene, die in ihrer Absurdität Wenders alle Ehre gemacht hätte, läge ihr Hintergrund nicht im Tragischen. In der Wüste steht ein weißer VW Käfer, völlig vereist, in dem ein Mann schläft. Drinnen hat er einen Fernseher. Nur zum Wasserlassen geht er hinaus und schreit die Flugzeuge an, die ihn oben überfliegen, denn er verlor eine Frau und seine Tochter bei einem Bombenangriff.
Wir können die Kinder zur Mutter? Sie könnten etwas stehlen, um dann verhaftet zu werden. Jemand schickt sie ins Park-Kino, das ist dünn besucht, und wir sehen exakt die Schlüsselszene aus dem Film Ladri di biciclette: Bruno schnappt sich auf dem römischen Flohmarkt Porta Portese ein Rad und wird gleich festgenommen, und sein Sohn kriegt es mit.
Draußen folgt Zahed diesem Muster und kommt tatsächlich in den Knast. Nicht zur Mutter jedoch. Wie konnte der englische Filmkritiker Bradshaw diesen Film als »entnervend und seltsam« bezeichnen? Hatte er einen schlechten Tag?
Der Film ist rührend und hart, weil das Leben dort so ist … oder wie es war in der Zeit nach den Taliban; auch Cinco de la Tarde spielt nach deren Herrschaft, die 20 Jahre später Afghanistan erneut heimsuchte. Nun ist es für Frauen und Kinder noch viel härter. Gol-Ghotai spielte noch in zwei weiteren Filmen mit, 2006 und 2008. Wegen ihr muss man Streunende Hunde unbedingt sehen.
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