Die nächtliche Prozession

Nach eineinhalb Jahren wieder ein Beitrag aus der Zeitschrift Magikon, die Justinus Kerner (1786-1862) von 1840 bis 1853 herausgab. Doch hat manipogo Magikon bereits überholt: Wir feierten am 9. August den 13. Geburtstag … und machen weiter! Heute schließen wir an die beiden Beiträge von gestern und vorgestern an: Prozessionen zum Kirchhof!

Die nächtliche Prozession.
(aus Mainz mitgetheilt.)

Zwei Pfarrer, der eine D. in M. am Rheine, der andere K. in E., einem Pfarrdorfe, 2 Stunden davon, beide allgemein hochgeachtete, in der Seelsorge ergraute, ehrwürdie Männer, erzählten bei ihrem Leben dem Schreiber dieses und so vielen andern Leuten nahestehendes ihnen selbst begegnete Ereigniß:

»Anfangs der 1790er Jahre, erzählte D., war ich mit K. in dem erzbischöflichen Seminar in M. An einem Sommerabende nach 9 Uhr stiegen wir auf den Speicher der dortigen Kapelle, frische Luft zu schöpfen. Aus dem Guckloche übersahen wir die etwas schräg gegenüberliegende, nur durch eine schmale Straße gesonderte St. Christophskirche, und vor uns den damalig daranstoßendne Kirchhof sehr deutlich und bestimmt.«

»So dastehend unterhielten wir uns eine lange Weile über verschiedene Gegenstände, als ich bemerkte, dass die dunkle Kirche nach und nach von Innen erleuchtet wurde, und zwar so hell, wie wenn nun ein feierlicher Gottesdienst beginnen sollte. Ich machte meinen neben mir stehenden Freund hierauf aufmerksam, der Gleiches mit mir bemerkt hatte, und gleich begierig war, zu sehen die Dinge, die da kommen sollten.«

»Auf einmal öffnete sich das große Portal, das zum Kirchhof führt, und heraustraten paarweise verhüllte Figuren mit einem brennenden Licht in der Hand, gleich einer Prozession, die, aus vielen Gliedern bestehend, sich auf den Kirchhof begab, wo sie sich nicht weit von einem längst errichteten Grabsteine in einen großen Haufen vereinten. Was war nun natürlicher, als anzunehmen, dass nach der damalig noch herrschenden Sitte irgend ein Reicher oder Vornehmer der Stadt in der Stille beerdigt werde? Doch nach einiger Zeit löste sich der Haufen Lichterträger wieder auf, und ging in der nämlichen Ordnung in die Kirche zurück, wie er gekommen war; man sah die Kirche wieder hell werden, wie zuvor, als auf einmal alles Licht verschwand, und das alte Dunkel der Kirchenfenster vor wie nach zurückblieb.«

»Begierig, wer da begraben worden seyn möchte, sprachen wir im Herabsteigen von unserer Schaubühne den festen Vorsatz aus, am Frühmorgen des kommenden Tages den Küster der fraglischen Kirche zu sprechen.«

»Am andern Morgen erhielten wir auf unsere Frage vom Küster zur Antwort, dasss er von einer Begräbniß in besagter Zeit nichts wisse, und auf den Kirchhof geführt, entdeckten wir am bemerkten Platze, wo sich der Haufen aufgestellt hatte, auch nicht eine Spur von einem neuen Grabe oder aufgegrabener Erde, sondern alles war gleich eben und unumgearbeitet.«

»Wer erklärt uns dieß?« fragten diese Männer nach jeder Erzählung dieser Geschichte. —

 

(aus: Magikon, erstes Heft 1841, S. 218, digital in der Universitätsbibliothek Freiburg)

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