Allein mit dem Phone
In dem Buch Fomo von 2018 (über die Furcht, etwas zu verpassen) habe ich auch über die Isolation geschrieben, die mit dem Smartphone einhergeht, denn damals deutete sich schon an, dass die Abhängigkeit von den Sozialen Medien in psychische Krisen führen kann. Doch über den Shitstorm und den Hass im Netz gab es damals erst wenige Informationen.
Man sollte psychisch stabil sein und auch einiges einstecken können, wenn man sich in den Sozialen Medien exponiert. Es reicht schon, von vier oder fünf Mitschülern oder Freunden angemacht zu werden, weil man ein Foto verbreitet hat, das falsch verstanden werden konnte. Neid und Eifersucht spielen oft eine Rolle. Da sind zuletzt im Oktober zwei traurige Fälle passiert.
Ich denke an den 29-jährigen Schachmeister Daniel Naroditsky, der so toll das Schachspiel erklären konnte und am 19. Oktober tot zu Hause aufgefunden wurde. Er hatte zuletzt bedrückt gewirkt; ein früher berühmter russischer Schachspieler attackierte ihn dauernd mit Betrugsvorwürfen. Vermutlich nahm sich Naroditsky das Leben (ich weiß das aber nicht). Es half ihm nicht der Gedanke an seine 800.000 Follower oder an eine glänzende Zukunft; er war in äußerster Not, er war alleine, er wusste sich vielleicht nicht mehr zu helfen.
Emman Atienza war aus den Philippinen und erst 19. Sie erfreute alle durch ihren Humor und ihr Strahlen. Irgendwann entstand Hass im Netz über manchen ihrer Beiträge, denn sie war privilegiert und versteckte das nicht. Auf Reddit schrieben Nutzer über den »toxischen« Subreddit chick.ph (was immer das ist), und dass Emmanuelle zugegeben habe, dass der Hass sie betrübte und sich in ihr unbewusst festgesetzt hatte.
Sie hatte zwar seit vielen Jahren mit psychischen Problemen zu kämpfen gehabt, war bipolar und depressiv, doch warfen sie vermutlich die Anfeindungen in den Sozialen Medien aus der Bahn. Emman stieg aus TikTok aus, dennoch spürte sie Druck und schrieb von Burnout. Zwei Tage vor ihrem Tod schrieb sie ihrer Mutter über eine Krise, doch klang es nicht dramatisch. Vielleicht kam es zu einer Kurzschlusshandlung. Emman hatte ihr Leben vor sich, noch so viele wunderbare spannende Jahre! 900.000 Follower hatte sie, doch eigentlich hatte sie niemanden. Sie war vermutlich alleine in diesem großen Haus in Santa Monica. Ihr Vater hielt sich in den Philippinen auf, ihre Mutter in Florida.
Viele junge Menschen, die allein mit ihrem Smartphone leben, bringen sich in Gefahr. Jemand postet ein böses Bild, schreibt etwas Böses, und eine Kampagne führt schnell dazu, dass jemand sich in die Enge getrieben fühlt, keinen Ausweg mehr zu finden scheint. Unter jungen Menschen kommt bullying eben vor, das habe ich in der Schulzeit auch erlebt.
Vier Wochen nach Emmans Tat, am vergangenen Sonntag, kam ein Tatort aus Stuttgart, Überlebe wenigstens bis morgen, der das Thema Einsamkeit behandelte. Wieder einmal war es ein hartes Psycho-Ding, man litt mit Nelly, dochdie überraschende Wendung am Schluss überzeugte nicht ganz. Und dass jemand andere online zum Selbstmord überredet, das ist ziemlich daneben (war das nicht im Rostocker Polizeiruf 110 im Oktober auch so? Diese Drehbuchautoren sind wie Klone, sie haben immer denselben Einfall). Wo in den tausenden Krimis alle denkbaren Arten von Kapitalverbrechen schon durchgespielt wurden und nunmehr langweilig sind, bleibt nicht viel übrig, und so kommt der Drehbuchautor auf einen derart kranken Gedanken.
Allein sein mit dem Smartphone heißt radikal allein sein. Was aus diesem Ding kommt, ist nur ein Bruchteil dessen, was da draußen auf dich wartet. Da stehen nur Wörter, klinisch und kalt. Oder Reels, clever gemacht, um dich neugierig werden zu lassen. Du bist mehr als dieses Ding; leg es weg, und du wirst merken, dass du weiterlebst.
Um sich zu retten, braucht man jemanden, mit dem man reden kann. Die Stimme überträgt Emotionen und Wärme; das Herz sendet wohltuende Gammastrahlung aus. Man sollte eine Freundin treffen. Oder wenigstens hinausgehen, sich ablenken, sich den Wind um die Nase wehen lassen, um zu merken, dass man in einer Blase festhing. Aus ihr muss man raus! Du musst dich aus der Enge befreien, die Enge erstickt dich!
Auf einem Schild vor meiner Buchhandlung steht (natürlich auf Englisch, ich übersetze):
Sei nicht cool.
Umgib dich mit warmherzigen Leuten.
Das Leben ist Wärme.
Kalt bist du, wenn du tot bist.
Die Nummer der Telefonseelsorge kann helfen: 0800.1110111 oder 0800.1110222.
Oder www.telefonseelsorge.de.
(Über den Hass im Netz und anderswo dann später.)
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