Gerahmte Lücke
Ist mein Titel eine gute Übersetzung des Konzepts Framed gap, das die Psychoanalytikerin Marion Milner 1952 ins Leben gerufen hat? Gap ist auch ein Spalt, und Mind the Gap! wird auf Bahnhöfen gewarnt, und gemeint ist der Spalt zwischen Bahnsteig und der Treppe, die ins Zugabteil führt. Ich reime dann gerne Find the Gap! Suche und finde die Lücke, wo keine Regeln herrschen und du kreativ sein darfst!
Gap, das könnte auch eine Leerstelle sein, und der Artikel Leerstellen Anfang des Jahres 2025 (Link unten) ist mit dem heutigen verwandt. Wie dieser beruft sich der heutige Beitrag auf einen Artikel in der Sydney Review of Books: Ellen Smith schrieb im September In Defence of Creativity über Marion Milner, die 1900 geboren wurde und 1998 starb. Eine Frau des 20. Jahrhunderts!
Es geht jedenfalls um die Psychoanalyse von Sigmund Freud, den Milner Anfang der 1920-er Jahre traf. Sie hatte zunächst nur geschrieben, bevor sie Psychologie studierte. Sie kombinierte beides, indem sie jeden Tag möglichst ehrlich über sich selbst schrieb. Den Anstoß dazu gaben die Essais von Michel Montaigne, der im 16. Jahrhundert lebte. Sie erkannte:
Die Gewohnheit, mich selbst zu betrachten, wurde irgendwie zu einer eigenen Kraft, die mein ganzes Wesen veränderte.
Man solle herausfinden, wer und wie man sei. Authentizität! Milner unterscheidet dabei das automatisierte Selbst und das eigenmächtige Selbst. Man solle der Illusion des Wissens etwas entgegensetzen. Die Psychoanalyse sei literarisch. Und so kam sie zu ihrer Framed gap:
Was innen drin ist, muss wahrgenommen werden. Verletzlichkeit ist nicht von Weisheit zu trennen. Ein Rahmen ist immer nötig: für das freie Theater, das Ritual und für Gedichte, bei denen der Rahmen das Schweigen ist.
Marion Milner stellt eine Situation als framed gap bereit. Sie greift nicht ein. Der Rahmen besteht aus Raum und Zeit. Und innerhalb dieses Rahmens sei ein ästhetisches Urteil wichtig. Eine Antwort solle man nicht geben, der Klient müsse selber herausfinden, was los sei. Immer gehe es darum, einen Sinn für das Lebendigsein wiederzugewinnen. (Ellen Smith erzählte ein Beispiel: ein traumatisierter Junge wollte immer Spielzeugflugzeuge abstürzen lassen, und Marion Milner ließ ihn im Wohnzimmer schalten und walten, bis sie eine Art von Schönheit in den Demonstrationen des Jungen sah.)
Dies läuft freilich der gegenwärtigen Manie von evidenzbasierter Medizin zuwider. Heute will man eine rasche Diagnose, der ein paar Sitzungen folgen. Es gibt auch schon Selbsthilfe-Therapie-Apps. Das spart Kosten; Nichtwissen und Leerstellen sind dem Praktiker von heute ein Greuel!
Akshi Singh folgte in einem Roman den Maximen Milners. Die Muße sei auch ein Raum ohne einen Gedanken an Nützliches. Sie erwähnte eine neue Art der Wahrnehmung: nichts zu wollen, worauf man alles gleichzeitig erblicken könne. Oder anders. Wenn man sich etwa von den Konventionen bei der Betrachtung von Gemälden befreie, könne man Neues sehen: die Farbgebung, den Pinselstrich, kleine Details. Man wolle ein neues Verhältnis zur Außenwelt gewinnen, und sie erwähnte eine Freundin, Jan, die ein besonderes Ritual hatte: Sie ging in Vollmondnächten barfuß durch Wiesen und betrachtete den Mond. Dies alles ist nicht neu und mag buddhistisch wirken, doch es steckt im Menschen drin.
Und auch Marion Milner hatte diesen Drang, und einmal im Schwarzwald öffnete sich ihr eine Tür, und sie gehörte der Welt an. Das erzählen wir morgen.
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