Zweite Geburt
An Weihnachten bleiben wir beim Traum und lösen uns von ihm; irgendwie ist das zu bedeutend geworden, aber dennoch, die alte Dramatik ist nicht ohne Reiz, und etwas Gefühls-Schwulst gehört dazu. Jean Paul (1763-1825) hat sich nicht mit etwas Gefühl begnügt, er stürzte sich in ein Meer aus Gefühlen und zog seine Leserinnen (Frauen liebten ihn!) mit hinein. In Die Unsichtbare Loge schenkt er uns (und seinem Helden Gustav) eine zweite Geburt.
Die Handlung des Romans Die Unsichtbare Loge ist verwickelt, aber Handlung muss sein, und wer sich das reintun will, liest am besten bei Wikipedia nach. In einem Aufsatz hatte der beliebte Dichter einmal geschrieben (wie hier zitiert):
Das Leben ist ein Traum; der Tod ist ein Traum; aus den Träumen werden wir im Himmel wach.
Das spielt er in seinem 1793 erschienenen Roman nach. Die Schwiegermutter einer Braut, die zu einer Sekte gehört, hat verfügt, dass deren Sohn acht Jahre unter der Erde aufgezogen werden soll. Der kleine Gustav verbringt also die Jahre zwischen zwei und zehn in der Dunkelheit, betreut von einem Lehrer namens Genius, der auch einen Pudel hat. Dann soll Gustav (zum zweiten Mal) zur Welt kommen, und das wird seltsamerweise ein Sterben genannt. — Schön hat das Professor Ortwin Beisbart in einem Text über Jean Paul dargelegt (Text 8). Jean Paul:
Der Genius bereitete ihn [Gustav] lange auf die Auferstehung aus seinem heiligen Grabe vor. Er sagte zu ihm: »Wenn du recht gut bist und nicht ungeduldig und mich und den Pudel recht lieb hast: so darfst du sterben. Wenn du gestorben bist: so sterb’ ich auch mit, und wir kommen in den Himmel« (womit er die Oberfläche der Erde meinte) – »da ists recht hübsch und prächtig. […] im Himmel ist alles voll Seliger, und da sind alle die guten Leute, von denen ich dir so oft erzählet habe, und deine Eltern […], die dich so lieb haben wie ich und dir alles geben wollen. Aber recht gut musst du sein.’ – ‚Ach wenn sterben wir denn einmal?’ fragte der Kleine …
Der Genius inszeniert die »Auferstehung« genial: mit einem Sonnenaufgang.
Der Kleine bebte vor Freude und Angst […] der Genius stößet die Pforte auf, hinter der die Welt steht – und hebt sein Kind in die Erde und unter den Himmel hinaus….. Nun schlagen die hohen Wogen des lebendigen Meers über Gustav zusammen – mit stockendem Atem, mit erdrücktem Auge, mit überschütteter Seele steht er vor dem unübersehlichen Angesicht der Natur und hält sich zitternd fester an seinen Genius …. Als er aber nach dem ersten Erstarren seinen Geist aufgeschlossen, aufgerissen hatte für diese Ströme
– als er die tausend Arme fühlte, womit ihn die hohe Seele des Weltall an sich drückte
– als er zu sehen vermochte das grüne taumelnde Blumenleben um sich und die nickenden Lilien, die lebendiger ihm erschienen als seine, und als er die zitternde Blume tot zu treten fürchtete
– als sein wieder aufwärts geworfnes Auge in dem tiefen Himmel, der Öffnung der Unendlichkeit, versank
– (…)
so fing der Himmel an zu brennen, der entflohenen Nacht loderte der nachschleifende Saum ihres Mantel weg, und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom göttlichen Throne niedergesunkene Krone Gottes, die Sonne. Gustav rief: »Gott steht dort« und stürzte mit geblendetem Auge und Geiste und mit dem größten Gebet, das noch ein kindlicher zehnjähriger Busen fasste, auf die Blumen hin … Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber! Du siehest nicht mehr in die glühende Lavakugel hinein; du liegst an der beschatteten Brust deiner Mutter, und ihr liebendes Herz darin ist deine Sonne und dein Gott.
Interessant: Rustan, der abenteuerlustige junge Mann in Der Traum ein Leben von Grillparzer, reagiert wie der kleine Gustav. Er ist erwacht, und sein Vater weist ihn auf die Sonne hin, worauf sein Sohn in die Knie sinkt und ausruft:
Sei gegrüßt, du heil’ge Frühe,
Ew’ge Sonne, sel’ges Heut!
Wie dein Strahl das nächt’ge Dunkel
Und der Nebel Schar zerstreut,
Dringt er auch in diesen Busen
Siegend ob der Dunkelheit.
Was verworren war, wird hell,
Was geheim, ist’s fürder nicht,
Die Erleuchtung wird zur Wärme,
Und die Wärme, sie ist Licht.
Man weiß ja, dass die frühen Völker die Sonne als Gott betrachteten, und man kann das verstehen. Freilich ist die Sonne nur ein Symbol und ein Bote der Göttlichen Quelle. Emanuel Swedenborg hat dazu klare Worte gefunden. Die Wärme der Sonne ist die Liebe, ihr Licht die Wahrheit. Das ist doch eine Botschaft für das Weihnachtsfest! Wörtlich sagte er, der mit den Engeln redete, in Himmel und Hölle (Abschnitt 13):
Dieses göttliche Wahre fließt in den Himmel ein vom Herrn aus Seiner göttlichen Liebe. Die göttliche Liebe und das göttliche Wahre aus ihr verhalten sich vergleichsweise wie in der Welt das Feuer der Sonne und das Licht aus ihr: die Liebe wie das Feuer der Sonne, und das Wahre aus ihr wie das Licht aus der Sonne. (…) Das Göttliche des Herrn im Himmel ist Liebe, weil die Liebe das Aufnahmegefäß aller [Güter] des Himmels ist, welche sind Friede, Einsicht, Weisheit und Seligkeit; denn die Liebe nimmt alles und jedes in sich auf, was mit ihr übereinstimmt, sie sehnt sich nach demselben, sucht es auf und zieht es in sich wie von selbst …
Ähnliche Artikel:
Die Seelen-Hebamme — Heilandsgeburtstag — Testpiloten (6): Todeserfahrung und Neugeburt — Neugeburt — Kinder kündigen sich an