Der Tangospieler

Am 18. Mai 1989 wurde in einer Buchhandlung in der Spandauer Straße in Berlin der Roman Der Tangospieler von Christoph Hein vorgestellt. Es war die Endphase der Deutschen Demokratischen Republik, was man noch nicht ahnen konnte. Erst am 4. September fand in Leipzig die erste Montagsdemonstration statt, und am 9. November ging die Mauer auf. Der Tangospieler ist ein literarischer Schlusspunkt und auch ein Denkmal für diesen seltsamen, unglücklichen (unglücklich machenden) deutschen Staat, der 40 Jahre hielt.

Ich muss mich mal wieder über Wikipedia amüsieren. Der Beitrag über das Buch leiert brav die Handlung herunter und lobt:

Lesevergnügen wird von Hein garantiert. Die Lektüre erscheint durchweg als simpel strukturiert und kurzweilig. So kommt der Leser auf seine Kosten.

Das ist geschrieben wie im Schulaufsatz. Da hat der Autor wohl ein anderes Buch gelesen als ich. Der Luchterhand Literaturverlag in Frankfurt erhielt vom Aufbau-Verlag in der DDR die Rechte und brachte das Buch im selben Jahr heraus, 1989. Auf die Rückseite druckten die Frankfurter ein Zitat:

»Kein Autor der DDR hat binnen weniger Jahre die Literatur seines Landes so schlagend und nachhaltig verändert wie Christoph Hein.«
Wolfgang Emmerich

Damals schon nachhaltig! Da hat jemand vielleicht die Literatur beeinflusst, doch wen kümmert das? Literatur ist ein Seismograph ihrer Zeit und bildet Leben ab, und wer gut ist als Autor, trifft den Zeitgeist und schafft ein Porträt einer Gesellschaft, in dem sich alle wiederfinden. Literatur ist nur ein Vehikel, eine Technik; sie ist so, wie die Welt ist, in der die erfundenen Gestalten agieren. Es gibt bessere und schlechtere Autorinnen und Autoren, aber alle arbeiten an einem Gesamtwerk über die Welt und ihre Menschen.

DSCN5113Heins Roman beginnt im Februar 1968, als Hans-Peter Dallow nach 21 Monaten aus einer Haftanstalt entlassen wird (rechts ein Gefangenentransporter aus der DDR), und er endet im August 1968, als die Russen die Tschechoslowakei überfallen und Alexander Dubček entmachten. Der Ex-Wissenschaftler Dallow bekommt am Ende wieder eine Dozentur, na ja, ein unglaubwürdiges Happy-end und vielleicht ein Zugeständnis an die Machthaber, damit das Buch durch die Zensur kam.

Ich fand das Buch schön existentialistisch, weil der gute Dallow sich in der Welt so fremd fühlt und durch sein Wesen die Sinn-und Inhaltslosigkeit der Welt spiegelt. Die Helden in Büchern sind oft Außenseiter, durch deren Augen wir erkennen, dass unsere Interaktionen und Routine-Handlungen manchmal fragwürdig und lachhaft sind.

DSCN2154Dallow, 36 Jahre alt, kommt aus dem Gefängnis und lässt sich treiben. Er hat keine Lust zu arbeiten, aber viel Lust auf Sex, und irgendwie ist er ein Wanderer, ein Reisender. Wir denken an Joseph von Eichendorff, der über sehnsüchtigen Gesellen schrieb, die bei Vollmond gern in der Kutsche unterwegs sind, und 1826 schrieb er Aus dem Leben eines Taugenichts, und das war reine Fantasie und völlig überdreht, und der glückliche Schluss wirkt völlig irreal und aufgesetzt, als wär’s die romantische Ironie Heines. Dann, 150 Jahre später und nach zwei weltvernichtenden Kriegen, war sie wieder da, die Sinnlosigkeit: Der Fremde von Albert Camus, die Werke von Beckett und Ionesco.

Handke schrieb 1975 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter: Der Torwart Josef Bloch versteht einen Satz falsch und geht mitten in der Partie davon. Die Worte bedeuten nichts mehr oder führen in die Irre. Brinkmann erledigte die Poesie, während Peter Rosei in Von Hier nach Dort 1981 die Desillusionierung verklärt und verrät, weil er schon die Ästhetisierung der 1980-er Jahre im Kopf hat. Die Literatur wird den Zeitgeist nicht los, und nur die ganz Großen können zeitlose Monumente schreiben.

Der Tangospieler zeigt uns die Zeit der freien Liebe (1968) und die täglichen Verrichtungen in ihrer Banalität. Das Buch wirkt, als sei es in den 1970-er Jahren entstanden, aber mag sein, dass erst gegen Ende der DDR die Desillusionierung übermächtig und ausdrückbar wurde, dass erst dann deren Ausdruck gestattet war. »Negative« Bücher waren immer verworfen worden.

Nun noch ein paar Zitate zum Zwecke des »Lesevergnügens«, das Hein angeblich garantiert:

Sie lächelte, und Dallow betrachtete sie eingehend. Er wollte sofort mit Sylvia schlafen.

Es gab für ihn nichts zu tun; er genoss es, die Zeit zu vergeuden ohne verpflichtende Auflagen und als Befehle vorgetragene Ermahnungen. Bei den flüchtigen Frauenbekanntschaften hatte er darauf geachtet, dass man sich trennte, ohne über ein Wiedersehen zu sprechen oder es auch nur grußweise anzudeuten.

Ihn überrraschte, dass diese früheren Jahre, sein früheres Leben für ihn unerreichbar waren und keine Anknüpfung zuließen. 

Dallow kniff die Augen leicht zusammen und sagte rasch und ohne weiter zu überlegen: »Ein Lichtspiel. Die Welt ist ein Lichtspiel. … Wenn das große Licht ausgeschaltet wird, ist hier nichts mehr. Alle Existenz ist an das Licht gebunden und existiert insofern nicht wirklich. Ist nur ein Lichtspiel, ein Phänomen der Optik, wie das Kino.«

Als eine Straßenbahn kam, stieg er ein und überlegte, nachdem die Bahn abgefahren war, weshalb er eingestiegen sei, wohin er fahren wolle. Er konnte sich selbst keine Antwort geben, blieb aber in der fast leeren Bahn sitzen …

Die Spielzeuglokomotive, die kleine Modelleisenbahn mit dem Namen Hans-Peter Dallow würde unaufhörlich ihr geradliniges und dennoch kreisförmiges Gleis abfahren.

Er wartete, ohne zu wissen, worauf. Vor langer Zeit hatte er die Erfahrung gemacht, dass die einfachste und erträglichste Form des Wartens darin bestand, sich in ein Café zu setzen: Die Stunden verrannen und irgendwann mit ihnen dieses lähmende, unbestimmbare und quälende Gefühl, etwas zu erwarten, was nie eintreffen kann, weil es nicht existiert.   

 

Vielleicht noch ein paar Links zum Stichwort Gefängnis:

Das GefängnisDie Engel der SündeWarten auf Antwort Ein guter MenschDie Schattenfrauen von Zelle 52Bautzen II Die Passion der Teresa

 

 

 

 

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